Erfinder

Daimler-Benz schrieb ihm. Januar 1985. Sehr geehrter Herr Bernau, wir hatten Ihnen schon 1977 mitgeteilt, dass wir keine Rechte an Ihrem neuen Scheibenwischersystem erwerben möchten. Diese damalige Stellungnahme können wir nur bestätigen. In der Hoffnung, Ihnen den notwendigen Aufschluß zu geben, verbleiben wir mit freundlichem Gruß, Daimler-Benz AG.

Die erste Absage wollte Bernau nicht akzeptieren.

Er tippt auf den Brief, der vor ihm auf dem gefliesten Wohnzimmertisch liegt.  Zwischen einer angebrochenen Packung Röstzwiebeln, unzähligen Tablettenschachteln und seiner immer griffbereiten Kanne Kaffee. „Schau mal,“ sagt Bernau, der schweren Berliner Dialekt spricht, „über die arroganten Vögel könnt ich mich immer noch aufregen.“ Er nimmt den Brief in seine zittrige Hand und heftet ihn zurück in einen dicken Leitz-Ordner. Dort bewahrt er alle Absagen auf. Er sagt: „Mann, das war doch so genial.“

Klaus-Jürgen Bernau ist Erfinder.  Seit gut dreißig Jahren, also ziemlich genau sein halbes Leben lang. Seitdem tut er das, was für ihn ein guter Erfinder tun muss: „Er soll immer was erleichtern.“ Sich selbst hat er es damit allerdings nicht immer leicht gemacht. Seinen Mitmenschen auch nicht. Und leben konnte er von seinen Erfindungen nie. Im Gegenteil: er hat sich in den Jahren hoch verschuldet, um sich viele von ihnen patentieren zu lassen. Zumindest jene, die er für bahnbrechend hielt. Beim Patentamt moderten sie dann aber meist vor sich hin, immer eigentlich. „Oder sie wurden von den Großen geklaut,“ klagt Bernau. An seiner Goldkette hängt als Anhänger Justitia mit verbundenen Augen. Obwohl er so richtig nicht mehr an sie glaubt. „Gegen die Konzerne hat ja so n’ kleiner Bernau keine Chance.“ Dabei bräuchte er nur eine einzige, sagt er. Dann könne er richtig reich werden. Und endlich anerkannt für das, was er tut und unter dem er bisweilen auch leidet wie an einer Manie. „Wenn ich was sehe, das man besser machen könnte, denn ist es aus. Denn muss ich mich da einfach ranmachen an das Problem.“ Tage, Wochen, Monate kann das so gehen. Bernau vergisst dann die Zeit. Oft auch das Essen. Und häufig seine Frau. „Mein ganzes Leben dreht sich nur um meine Erfindungen,“ sagt Bernau. Bloß bei der Umsetzung hake es halt immer. Die sei meist beschissen.

Wie eben auch bei der Sache mit dem einarmigen Scheibenwischer, den er 1977 erfand. Die Idee dazu kam ihm, als der Reisebusfahrer Bernau mit seinem Neoplan „Kilometer geschrubbt hat.“ Es regnete wie aus Kübeln und Bernau sah kaum durch die Scheiben hinaus. Vor seinem inneren Auge hingegen stand es auf einmal deutlich vor ihm: hier müsste man mit einem einzelnen, großen Wischer ran, der könnte die ganze Frontscheibe abdecken und für klare Verhältnisse sorgen.  „Von wo an mir das klar war,  konnte ich drei ganze Wochen kaum mehr pennen.“  Weil Bernau das Schlafen mit Hilfe von zwei Kannen Kaffee pro Nacht praktisch einstellte, bis sich sein Einfall in detaillierte Konstruktionszeichnungen verwandelt hatte. Als er dann fertig war, schickte er seinen Vorschlag an General Motors, Toyota, Daimler-Benz „und wie die noch alle hießen.“ Manche schickten ihm Absagen zurück, andere nichts.

Ein paar Jahre später kommt es zu einem Schlüsselerlebnis in Bernaus Erfinderleben. Wieder regnete es und Bernau wieder mit  Bus auf der Autobahn. Da überholte ihn der damals neue 190er von Mercedes. „Nicht, das mich so n’ Scheiß Daimler überholt hat,“ sagt Bernau und fragt: „Aber was seh’ ich da?“ Er sah seinen Scheibenwischer. Einarmig. „So geht mir das immer, verflixt noch mal.“

Bernau wohnt mit seiner Frau im Ostberliner Stadtteil Lichtenberg. In einer kleinen Erdgeschosswohnung, in der es nach kaltem Rauch riecht. Er hat einen Kinnbart, der ein bisschen an Lenin erinnert, den großen Revolutionär. Aber er als Erfinder ist ja auch ein Revolutionär, einer im Kleinen zumindest. Und einer, der heute wieder seinen roten Pulli über dem schmalen Leib trägt, „den ich schon seit zehn Jahren so gerne trage.“ Dazu blaue Bundfaltenhose und weiße Turnschuhe. Er raucht an einem Zigarillo. Zieht hastig daran. Erfinden sei ja so eine Art von ständiger Unruhe, sagt Bernau. Jede Stunde greift er nach einer der Tablettenschachteln auf dem Tisch. Er braucht Pillen gegen sein Magengeschwür, gegen seine übersäuerte Lunge, gegen Kreislaufprobleme. „Gegen alles eigentlich,“ sagt er.

Bernaus Erfindungen kreisen hauptsächlich „rund um das Thema Auto.“ Vielleicht deshalb, weil er früher, in den Sechzigern, mal eine Automechanikerlehre gemacht hat. Und vielleicht auch, weil ihm die meisten Ideen immer auf den langen Touren hinter dem Lenkrad seines Busses kamen. Wo er ja mehr oder weniger direkten Kontakt hatte mit der Materie. „Ich hab sicherlich schon tausend Sachen erfunden,“ sagt Bernau. Er macht sich Gedanken darüber, wie man den Verbrauch eines Autos senkt, die Sicherheit erhöht oder dessen Leistung.

„In meinen Fiat 500 zum Beispiel: da hab ich mir ne Ampel hinten reingebaut.“ Grün zeigte sie an, wenn er beschleunigte, gelb, wenn er fuhr und rot, wenn er bremste. „Damit bin ich damals gleich zum ADAC gerannt.“ Wo man skeptisch war, weil es  auf die Verkehrsteilnehmer vielleicht etwas verwirrend wirken würde. Wenig später kam dann die dritte Bremsleuchte als Bernaus abgespeckte Version auf den Markt. Bernau sah wieder nur zu. „Oder das,“ sagt er, steht auf und geht zu seinem Schreibtisch, einer gewaltigen Ansammlung von kaffeebefleckten Zetteln und Papieren, die sich um seinen  alten Computer schart. „Mann, wenn meine liebe Frau nicht wäre, würde ich hier auch mal wieder was finden,“ knurrt er. Dann zieht er ein Bündel hervor und sagt: „Hier stehts drauf.“ Zeichnungen mit vielen Pfeilen und Formeln sind zu sehen. „Das war’n Airbag für Stoßstangen.“ Unfallschäden könnte man damit drastisch reduzieren. „Ist das etwa nichts?“

Im Moment wird Bernau das Erfinden ein wenig verleidet, weil sich wieder mal andere Probleme in den Vordergrund schieben. Die Wohnung wurde gekündigt. Wegen Eigenbedarfs. Noch zwei Monate, dann müssen sie raus hier. In den letzten Jahren musste Bernau oft umziehen. Wegen Eigenbedarfs. Aber auch, weil er die Miete nicht zahlen konnte. Seit 1991, da war er 47, ist Bernau erwerbsunfähig, nachdem er zuvor mit dem Bus zwanzig Jahre quer durch Europa gefahren war. Seitdem lebt er von einer kleinen Rente, der fortwährenden Hoffnung auf den großen Durchbruch und dem, was seine Frau als Zimmermädchen im Interconti nach Hause bringt. Vor fünf Jahren haben sie geheiratet. In Hanoi. Weil sie als Vietnamesin noch keine Aufenthaltsgenehmigung für Deutschland hatte. „Das war ne tolle Zeremonie,“ sagt Bernau, „ihre ganze Familie ist dabei gewesen.“ Dann steht er auf und sagt: „Komm’ mal mit ins Schlafzimmer, ich zeig Dir mal was.“ Über dem Bett hängt dort ein großes Bild mit goldfarbenem Rahmen.  Das Hochzeitsfoto: Bernau in blauem Anzug, mit fein gestutztem Bart und leuchtender Krawatte. Zusammen mit seiner Frau in wallendem, weißem Kleid. Vor einer blühenden Tapetenwiese. „Weißte,“ sagt Bernau und zeigt auf das Bild, „ich liebe meine Thuy.“ Sie verstünden sich gut, auch wenn es manchmal schwierig sei. Weil sie kaum Deutsch spräche und er nur ein paar Brocken Vietnamesisch.  

Ihre Vorgängerin, Bernaus dritte Ehefrau Bozidarka, konnte Deutsch. Vor allem  aber auch viele deutsche Schimpfworte, was die Beziehung nicht leichter machte. Bernau vermutet, „das die irgendwann so ne psychologische Macke gekriegt hat.“  

Vielleicht wurde es ihr auch zu viel. Mitte der Neunzigerjahre, „in meiner Sturm- und Drangphase,“ hatte Bernau seinen Computer noch im Schlafzimmer stehen. Und auch ein Reißbrett, auf dem er seine nächtlichen Ideen verarbeiten konnte. „Wenn ich nur einen Strich gemacht hab, konnt die schon nicht mehr pennen.“ Und wenn er ihr tagsüber von seinen Erfindungen und vor allem seinem nahen Durchbruch erzählt hat, sah sie rot. „Mann, die hatte vielleicht n’ Temperament. Irgendwann hat die mit nem Messer nach mir geschmissen.“ Glücklicherweise habe er  rechtzeitig eine Tür zwischen sich und das Messer bekommen.

Einmal, als er noch längst kein Erfinder war, brachte er nichts zwischen sich und das Unheil. Das war im Oktober 1950. Der Erstklässler Bernau war gerade auf dem Heimweg. Durch Wald und Schrebergärten musste er laufen, am Ende erst über eine Straße, „die Boxhagener war das.“ Fast war er schon drüber, da kam ein Laster, erwischte ihn am Ranzen und wickelte so den kleinen Bernau unter den hinteren Reifen. Er überlebte knapp, aber die ständigen Schmerzen im linken Bein und an der Wirbelsäule erinnern ihn bis heute daran.

In letzter Zeit beschäftigt er sich manchmal mit der Frage, wie das wäre, wenn er Kinder hätte. Ob die wohl auch sein Tüftlergen mitbekommen hätten? „Naja, das ist jetzt wohl nur noch ne theoretische Frage,“ sagt Bernau. Erstens sei seine Frau schon Ende Fünfzig und zweitens ist es bei ihm auch nicht mehr so „doll“, da er seit langem schon Antidepressiva schlucken muss. Und früher, als die Chance noch da war, „hab ich es selbst verbockt, weil ich immer  so übervorsichtig war.“ Aber was das betreffe, habe ihn wohl sein Vater verdorben.  Denn der sagte immer: „Junge, pass auf. Fünf Minuten Spaß. Achtzehn Jahre Verpflichtungen.“ Bernau ist Einzelkind.

„Ich hab noch Eintopf in der Küche, willst auch n’ bisschen?“, fragt Bernau. Auf dem Rückweg bringt er ein zwanzig auf zwanzig Zentimeter großes Modell aus Plexiglas mit und stellt es neben die Teller. „Wenn ich schon keine Kinder mehr kriegen kann,“ sagt er und lacht rasselnd, „wird mich hoffentlich das hier überdauern.“ Die Bernau, wie er sein Modell liebevoll nennt, ist die Blaupause für den von ihm erdachten Knallgasmotor, an dem „wirklich mein Herz dranhängt.“ Der Motor bräuchte als Brennstoff allein eine Mischung aus Sauer- und Wasserstoff. Kein Tropfen Öl mehr sei dafür notwendig. Und kein bisschen „Dreck“ käme mehr durch den Auspuff. „Mensch, damit könnt ich der ganzen Menschheit helfen,“ ruft Bernau in sein Wohnzimmer.

Es herrschte Smog in Berlin, damals, Mitte der Achtziger, als Bernau die Idee seines Lebens kam. Er wollte gerade mit dem Auto zu seinem Bus fahren. Durfte aber nicht. Allgemeines Fahrverbot. „Das hat mir vielleicht gestunken.“ Irgendwas müsste man dagegen doch machen können, dachte sich Bernau. Und war wieder infiziert mit der Lust am Optimieren. Dieses Mal aber nicht drei Wochen lang wie beim Scheibenwischer, sondern vier Monate. „Noch ne Schippe drauf damals und ich wär verrückt geworden,“ sagt Bernau rückblickend. Aber der Leonardo da Vinci oder der Picasso seien ja auch immer haarscharf am Wahnsinn entlang geschrammt.

Bernau mietete sich ein kleines, fensterloses Kellerzimmer. Las hintereinander zehn Fachbücher zum Thema. Machte sich ran mit dem Ziel vor Augen, den perfekten, den saubersten Motor zu erfinden. Nachdenken, Zeichnen, Rechnen. Ohne Unterlass. Schaute er auf die Uhr und es war schon halb drei in der Nacht, dachte er sich: „Kannste auch noch voll durchziehen.“ Für das kleine Geschäft hatte er sich einen Eimer in die Ecke gestellt. „Um nicht sinnlos Zeit zu verschwenden.“ Als sein Motor, „mein Opus Magnum,“ dann vollendet war, tauchte er wieder auf. Und musste erkennen, dass es ihm die zweite Ehefrau Anni gekostet hat. Die war gerade am Kofferpacken. „Das war n’ schöner Dank,“ sagt Bernau und schüttelt mit dem Kopf. Die Stelle bei seinem Busunternehmen hatte er gleich zu Beginn seiner Ausarbeitung gekündigt. Den Triumph mit dem Motor schon vor Augen.  Der wurde dann doch keiner, weil die Antworten auf seine Anfragen nur den Absagenordner dicker machten. Er fand zwar noch mal eine Anstellung bei einem anderen Busunternehmer. Die Situation mit dem Motor aber ist heute dieselbe wie 1986. Bernau streicht über das Modell und sagt: „Dabei bringt der sogar auch noch ne super Leistung. 500 PS!“

Er kann nicht verstehen, warum die anderen nicht verstehen, was das für ein Knaller wäre. Für alle. Und für ihn das  ersehnte Ende von Hartz IV, von dieser miefigen Wohnung und dem Gefühl, nichts richtig gemacht zu haben im Leben.

Vor einigen Monaten schluckte Bernau von seinen Antidepressiva eine Überdosis. Davor hatte er es auch schon zwei Mal probiert. Er gerät manchmal in Phasen, in denen er sich zu sehr in seinen Traum vom Durchbruch hineinsteigert.

Über seinem Schreibtisch hängt eine Urkunde. Von der Skatgemeinschaft „Zackas Kneipchen,“ gleich vorne an der Ecke zur Boxhagener Straße. „Wir gratulieren Klaus-Jürgen Bernau zum Grand Ouvert mit vieren und allen Kreuzkarten.“ Es ist das höchstmögliche Blatt im Skat. Weiter unten steht noch:

„Die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Blatt sich in den nächsten tausend Jahren wiederholt, ist gering.“

Solange möchte Bernau nicht mehr warten, bis die Autos endlich mit seinem Motor fahren. Vielleicht klappt es ja schon bald. Er hat da gerade wieder einen Interessenten. „Aus Schweizer Regierungskreisen,“ flüstert Bernau. „Ist aber noch top secret!“ Man sei schon ziemlich weit in den Verhandlungen, aber wegen seiner Erfahrungen, bei denen viel versprochen werde und wenig eingehalten, sei er immer noch skeptisch. Vielleicht klappt es doch nicht. Vielleicht macht ihm am Ende doch die weltweite Ölmafia alles kaputt. Weil die, "na klar", keinen Motor wollen, der keinen Sprit mehr frisst.

Sein Hund Bernie, eine alte Bulldogge mit Überbiss, springt neben ihn auf das Sofa. Er streichelt sie am Hals und sagt: „Ach, Bernie.“