Wanzl

Jeden Tag verlässt die Werkstore der Wanzl Metallwarenfabrik GmbH in 89340 Leipheim vieltausendfach ein schlichtes wie geniales Produkt. Ein Produkt, das niemand wahrnimmt und erst dann auffällt, wenn es nicht da ist. Es ist weltbekannt, aber keiner weiß, wer dahinter steckt. Wie ein großer Hit, dessen Komponist keiner kennt. Würde Wanzl nicht viel Geld verdienen damit, es wäre ein tragischer Fall versagter Anerkennung. Millionen Menschen fahren tagtäglich und seit Jahrzehnten damit spazieren, was sie an Nötigem und Unnötigem brauchen für ihr Wohlbefinden.

Wanzl ist unangefochtener Weltmarktführer bei der Herstellung von Einkaufswagen. Mit 3'700 Mitarbeitern produzierte man allein im letzten Jahr zwei Millionen Stück. Mehr als zwanzig Millionen sind weltweit unterwegs zwischen den Regalen von Super- und Baumärkten, Discountern, in den Schluchten von Edeka, REWE, Hornbach, IKEA, Aldi, Netto, Tesco, Carrefour oder Wal-Mart. Nicht mitgerechnet jene auf den Straßen von Problemvierteln, auf dem Grund diverser Seen und Flüsse, in Gebüschen oder unter Brücken. In Deutschland ist man mit einem Marktanteil von fast neunzig Prozent quasi Monopolist.  Auf der Welt tragen über zwanzig Prozent aller Einkaufswagen den Wanzl-Schriftzug am Griff.

Gottfried Wanzl, den engere Vertraute Fred nennen, Jahrgang 1954, bedächtige Stimme, schmale Augen hinter einer randlosen Brille, grauer Anzug einfacher Sorte, ist Inhaber und Geschäftsführer. Er sitzt am Konferenztisch seines Büros, dessen Moderne auf brauner Teppichauslegware 1990 eingeschlafen scheint, als man hier das neue Hauptwerk baute. An der Wand ein wenig Kunst und ein gerahmter Satz: „Wenn Sie Menschen Verantwortung geben, dann wachsen sie über sich hinaus.“ Draußen rauscht die A 8 München - Stuttgart, wo direkt an der Ausfahrt Leipheim, nahe Augsburg, das gewaltige Werk 4 von Wanzl flach und breit in der Landschaft liegt. Von seinem Büro hat Gottfried Wanzl Aussicht auf eine Aral-Tankstelle. Und einen Netto-Supermarkt. Dem man bei der Eröffnung vor ein paar Jahren die Einkaufswagen praktisch auf den Hof rollen konnte. Deren Anblick täglicher Motivationsschub ist für den Chef.

An diesem sonnigen Nachmittag sagt Wanzl zu Beginn des Gesprächs: „Wir fliegen ja nicht auf den Mond.“ Seit sein Vater 1949 einem Korb aus Draht vier Rollen anlötete und ihn „Pick-up“ nannte, damals noch in einem ausgemisteten Schweinestall als Werkstatt, habe man bei Wanzl stets versucht, sich durch kleine Schritte kontinuierlich zu verbessern. Weil Bahnbrechendes bei etwas so Schlichtem nicht zu erwarten sei. „Und emotional aufladen können wir unser Produkt auch nicht.“ Er macht eine kurze Pause und lächelt. „Aber wir hatten immer den großen Vorteil, dass wir nützlich sind.“

So nützlich, dass der Umsatz von Wanzl mittlerweile bei rund 400 Millionen Euro liegt und fast nie seit Gründung des Unternehmens 1947 um weniger als zehn Prozent im Jahr gewachsen ist. Allein seit 2002 hat er sich verdoppelt. „Weltmarktführer zu sein,“ sagt Wanzl tonlos, „gibt einem schon eine gewisse Sicherheit.“

Die man schnell gewann. Spätestens als sich der Vater von Gottfried Wanzl 1954 von seinen damaligen Partnern trennte. Bis dahin hieß das Unternehmen noch „Siegel & Wanzl“. Deutschland war gerade zum ersten Mal Fußball-Weltmeister geworden, das Wirtschaftswunder geriet in Fahrt, das Angebot in den Läden wurde größer, der Handel hatte die Selbstbedienung entdeckt und die Deutschen waren hungrig und in Kauflaune. Auf den Straßen fuhren immer mehr Autos und in den Regalschluchten mehr und mehr volle Einkaufswagen. Den Siegel-Brüdern wurde das Tempo, in dem die Firma wuchs, bald unheimlich. Wanzl aber wollte weiter wachsen, steckte all sein Geld in die Firma, in neue Produktionsstätten, neue Mitarbeiter, feilte an neuen Modellen. Und zahlte schließlich seine Geschäftspartner aus, um alleine weiterzumachen. Siegel machte im kleinen Stil weiter.

Und Wanzl hatte fortan die Möglichkeit, sich aus einer einigermaßen bequemen Situation heraus weiter zu entwickeln. Die kleinen Schritte der Verbesserung zu machen, „mit der man die Geschichte der Selbstbedienung“, wie Wanzl sagt und ein kleines Einkaufswagen-Modell aus Plastik auf dem Tisch bewegt, „wesentlich mitgestaltet hat.“

Derzeit arbeiten in der Marketing- und Entwicklungsabteilung von Wanzl rund 60 Menschen daran, den Erfolg zu konservieren. Arbeiten dafür, dass die Hauptkundschaft, der weltweite Groß- und Einzelhandel weiterhin bereit ist, je nach Ausfertigung zwischen 90 und 150 Euro für einen Einkaufswagen auszugeben. Was sich nach nicht viel anhört, bei einer branchenüblichen Faustformel von 10 Einkaufswagen je 100 Quadratmeter Ladenfläche aber durchaus ins Gewicht fällt. Allein bei den 12'000 Filialen von Edeka sind mehr als eine Million Wagen von Wanzl im Einsatz. Beim Besuch eines Supermarktes, sagt Gottfried Wanzl, sei der erste Eindruck für den Kunden der Einkaufswagen.

Der im Laufe der Zeit immer auch so etwas wie ein Spiegel der Einkaufsgewohnheiten war. Keiner bei Wanzl wüsste das besser als Peter Bilang, ein großer, eloquenter Mann von 61 Jahren, den man auf den ersten Blick eher für den Chef halten würde, der aber Marketingleiter von Wanzl ist, ein enger Freund der Familie und dienstältester Mitarbeiter. 1972 stellte Wanzls Vater ihn ein. Der Grafikdesigner dachte an eine vorübergehende Episode. „Naja, irgendwie hab ich dann meine Leidenschaft entdeckt für diesen fahrenden Haufen Stahl,“ sagt er und lacht. „Bitte“, sagt er und führt in den gläsernen Ausstellungsraum von Wanzl, den er selbst erst vor kurzem fertig gestellt hat. „Mein kleines Heiligtum.“

Über 100 verschiedene Typen von Einkaufswagen stehen dort. Drapiert wie moderne Kunst, in chronologischer Reihenfolge. Aus dem Jahr 1957 beispielsweise: Der „Concentra“. Das Meisterstück von Rudolf Wanzl. Indem er ein kleines, entscheidendes Detail entwickelte gegenüber dem Pick-Up: die einklappbare Rückwand. Nun konnte man die Wagen ineinander schieben. Logistisch ein Meilenstein. Weil man den Platzbedarf um ein Vielfaches minimierte. Er wurde die Basis für alle späteren Modelle.

Die im Laufe der Jahre vor allem größer wurden. Hatte der Concentra noch 40 Liter Fassungsvolumen, lag der „EL“ von 1970 schon bei 120 Litern und heute fasst meistverkaufte Wagen, ein „DR“, 240 Liter. Weil die Märkte immer größer wurden, die Gänge breiter. Aber auch, weil größere Wagen länger leer wirken und gefüttert werden möchten. Der kleine Kindereinkaufswagen, den viele Märkte forderten und bei Wanzl lange Zeit ein Bestseller war, wird mittlerweile nicht mehr produziert. Mütter waren irgendwann damit überfordert, ständig all die Dinge wieder zurückzulegen, die ihre Kinder darin anhäuften. Zeitlos dagegen ist die Kinderklappe, gleich hinter dem Griff, maximal  15 Kilo Gewicht. Eingeführt in den Sechzigern, so dass heute schon Enkel derer darauf durch den Supermarkt chauffiert werden, die selbst einst dort saßen.

Als Peter Bilang die Modelle für Baumärkte erreicht, seufzt er kurz. „Die haben uns vor allem in den Achtzigern nochmal in eine andere Umsatzdimension gebracht.“ Und seien bis heute fast genauso wichtige Kunden wie die Supermärkte. Dann kam die Wende. Und wieder war Wanzl einer der großen Profiteure. Der Osten Deutschlands und Europas wurde zugepflastert von den Filialen der großen Handelsketten. Und kurz vor jeder Neueröffnung rollten als letzter Akt die Wagen von Wanzl heran.

Dass der Erfolg nie abriss. Bis heute die Firma Caddie aus Frankreich und Marsanz in Spanien die einzigen, wenn auch ungleich kleineren Wettbewerber geblieben sind. Gottfried Wanzl sagt dazu: „Wir waren nie bescheiden, wenn es um unser Wachstum ging.“ Oft habe man am absoluten Limit produziert, um auch den kleinsten Kunden noch zu bedienen.

Was nicht leichter wurde dadurch, dass Einkaufswagen ein Saisongeschäft sind. Weil die Händler den Bau neuer Filialen meist im Frühjahr beginnen, um im Herbst, noch vor dem Weihnachtsgeschäft, eröffnen zu können. Deswegen müssen bei Wanzl zwei Drittel der Jahresproduktion zeitnah von September bis Dezember aus dem Werk rollen.

Im persönlichen Kontakt mit den Einkäufern der Handelsketten dagegen traten die Leute von Wanzl immer bescheiden auf. „Die Mitarbeiter bekommen bei uns viel Verantwortung und wenig Vorschriften,“ sagt Wanzl, „aber Überheblichkeit dulde ich nicht mal im Ansatz.“ Dass habe sein Vater schon so gehandhabt. Vor drei Jahren übernahm Wanzl den ehemaligen Mitstreiter Siegel. Der am Ende mit 130 Mitarbeitern nicht mal 100'000 Wagen herstellte im Jahr. Bevor er Insolvenz anmeldete. Und sich für Wanzl ein Kreis schloss sozsuagen, als man die Insolvenzmasse Siegels aufkaufte und deren Mitarbeiter übernahm.

Seitdem ist man in Deutschland einziger Hersteller. Weltmarktführer zu sein gebe ja Sicherheit. Aber das müsse nicht immer so bleiben. Schon jetzt formierten sich einige Firmen in China. „Deswegen,“ sagt Wanzl, „ist Bodenhaftung sehr wichtig.“ Sich auch mal kleiner machen, als man ist. Freundlich bleiben.

Und kooperativ. So wie damals, Anfang der Neunziger. Da wurde ein Problem immer dringlicher: dass vielen Supermärkten bis zu zehn Prozent ihrer Wagen jedes Jahr abhanden kamen. Was Wanzl im Grunde nicht unrecht sein konnte. Immerhin liegt die normale Lebensdauer eines Einkaufswagens bei etwa 15 Jahren. „Aber das wäre zu kurz gedacht.“ Gier sei kein guter Ratgeber im Geschäft. Deswegen kam man dem Wunsch nach, ein Münzpfandsystem zu entwickeln, dass dann die Hemmschwelle erhöhen sollte, Wagen zu entwenden oder den Druck, sie wieder zurückzubringen. „Das war zwar ein gewisser Widerspruch für uns,“ sagt Wanzl, trotzdem aber meldete man kurz darauf ein Patent an. Der Schwund wurde mehr als halbiert.

Was man mit dem Pfandsystem außer einem Imagegewinn damals nicht im Kalkül hatte, ein großes Geschäft, brach unverhofft ein Jahrzehnt später über Wanzl herein. Die Einführung des Euro führte zu einer fulminanten Sonderkonjunktur. Da der Austausch der Systeme praktisch genauso teuer gewesen wäre wie neue Wagen, bestellten viele gleich eine neue Flotte mit höhervolumigen Modellen.

Weil man aber von Zufällen möglichst unabhängig bleiben wollte, wurde in der Chefetage früh darüber diskutiert, was man denn außer Einkaufswagen noch machen könnte mit der Expertise, Stahl tausendtonnenfach zu biegen, zu verschweißen, ihn auf Rollen zu stellen, um den Menschen eine Last abzunehmen und ihn damit in gutes Geld für Wanzl zu verwandeln. Für die Deutsche Bahn produzierte man Kofferkulis. In einer fortentwickelten Version, mit Bremse hinter dem Griff, damit sie nicht vor einfahrende Züge rollen konnten. Und noch bevor die großen Massen durch die aufkommenden Billigairlines zu fliegen begannen, hatte Wanzl Gepäckwagen in die Flughäfen gebracht. Wo man heute einen Weltmarktanteil von gar 40 Prozent hat. Wenngleich dort der Zenit für Wanzl überschritten ist, seit Rollenkoffer in den letzten Jahren immer mehr Wagen überflüssig machen.

Spätestens da hätte man sich wohl das erste Mal den Aktionären erklären müssen, wenn man je an die Börse gegangen wäre. „Aber das war nie unser Ziel,“ sagt Wanzl, „das hätte uns nur vom Kerngeschäft abgelenkt.“ Und außerdem, findet Wanzl, habe man so auch das Familiäre der Firma erhalten - trotz der Größe, die man mittlerweile hat. Was auch Rudolf Wanzl gefällt, dem Gründer, 85 Jahre alt, ein von den Jahren gebückter Mann, den man aber noch immer, „an seinen guten Tagen“, im Unternehmen sieht und der Ehrenvorsitzender des Aufsichtsrates ist. Ob dereinst die Tochter von Gottfried Wanzl die Führung des Unternehmens übernimmt, ist nicht sicher. Noch studiert sie an einer Privatuniversität am Bodensee. „Ich fühle mich aber auch nicht berufen, sie da reinzubringen,“ sagt Wanzl. Außerdem wolle er so schnell sowieso noch nicht sein Büro verlassen. Nützlich sein, das sei doch nicht das Schlechteste, mit dem man Geld verdient, sagt er und lacht.

Draußen wird gerade ein Laster beladen. Die Fuhre geht an einen großen Supermarkt in einem zweistöckigen Kaufhaus. Also sind es die Wagen mit den speziellen, geriffelten Rollen, die sich in den Rolltreppen festhaken. Die kleinen Fortschritte mag man bei Wanzl.