Trybol

„Zwei Mal“, ruft Minder über den Tisch, eisblaue Augen in scharf geschnittenem Fernsehgesicht, randlose Brille, „zwei Mal!“, nun spreizt er Zeige- und Mittelfinger zum Victory-Zeichen, „das ist bei mir das Maximum.“ Sonst werde er laut. Wenn in dem Unternehmen, dessen Chef und Eigentümer Thomas Minder ist, das Telefon ein drittes Mal klingelt, wird er zum Gewitter nach langer Hitze.

Denn der Kunde ist ihm alles. Man lässt ihn nicht warten, man sagt ihm nie, dass irgendetwas nicht gehe. Kein „Nein“ zum Kunden. So will es Minder, so fast befiehlt er es. Weil er die Nähe zu ihm, zu „Herrn Meier und Frau Hugentobler,“ wie er die gewöhnliche Klientel beschreibt, nie verlieren will.

Vor einiger Zeit schrieb jemand an die Trybol AG, den Namen kann Minder nicht mehr genau erinnern: „Bei Euch muss man dreimal drehen, bis der Deckel ab ist. Bei Elmex nur einmal. Weil das Gewinde bei Elmex viel größer ist.“ Der Chef lächelt weiße Zähne frei: „Das ist doch was.“ Trybol verwendet für seine Tuben nun auch große Gewinde.

8212 Neuhausen am Rheinfall, Rheinstrasse 86, 1. Stock, zwei Eingangstüren. Geradeaus Trybol AG, natürliche Mundpflege. „Bitte läuten und warten“ steht auf einem Messingschild. Rechts wohnt Thomas Minder, 53 Jahre alt, drahtig, sportbesessen, ehemaliger Kompaniekommandant der Schweizer Armee, politisch engagiert als parteiloser Ständerat des Kantons Schaffhausen, kinderlos, „die Überbevölkerung ist schon jetzt zu groß,“ Verwaltungsratspräsident der Trybol AG, die 21 Menschen Arbeit gibt. Jeden Morgen um halb acht macht er die eine Türe zu und die andere auf, „riecht dabei nicht mehr, dass es riecht.“

Im Treppenhaus empfängt jeden, dem die Gewohnheit nicht die Sinne entschärft hat, ein All aus Pfefferminz. Für den Geübten kommen Salbeiaromen dazu und der Duft von Kamille. Der Geruch des Erfolgs von Trybol, der darin besteht, zu überleben im Konzert von Großen, ohne sich selbst zu verlieren. Mit seinen Zahnpasten, den Kräuter- und Mundwassern, Hand- und Gesichtscremes, 300 Erzeugnisse insgesamt, die Mund und Zahn schmeicheln, Haut und Haar, in Fläschchen und Schachteln wie aus den Siebzigern.

Und alles auf natürlicher Basis. Ohne Tierversuche. Ohne die Beimischung chemischer Duftstoffe. Und, wichtiger noch für Minder: ohne Zusatz von Schein zum Sein, wie er es nennt. Ohne Marketing. „Wir leben nur von unserer Mundpropaganda,“ sagt Minder, lacht kurz auf, weil ihm sein Satz ungewollt doppelsinnig geraten ist.

Nie war die Firma Trybol größer als jetzt, seit langem schon ist sie nicht kleiner. Was vor allem an der Firmenphilosophie liegt, die genau genommen die Philosophie von Thomas Minder ist: „Meine Unternehmung möchte ich auf einer zeitlosen Achse stetig und eigenständig halten“, erklärt er im Empfangsraum, helles Parkett, an den Wänden Werbung aus frühen Tagen: „Trybol – immer bewährt, immer begehrt.“ Was er mit der zeitlosen Achse sagen will, sagt Minder, ist, dass man nicht abheben sollte. Nicht größer werden sollte auf Teufel komm raus, sich in seiner Nische einrichten. Darin aber auch nicht verstauben. Ein bisschen was am Design der Verpackung ändern zum Beispiel. Aber keine Mogelpackungen entwickeln. „Bei der 30 Milliliter-Augencreme von La Prairie für 300 Franken ist die Verpackung doppelt so groß wie unsere für 50 Milliliter,“ klagt Minder.

Neugierig bleiben trotz alledem. Das neue Gewinde sei so ein Beispiel gewesen. Auch wenn der Neugier Grenzen gesetzt seien in einem Wirtschaftszweig, „der sich ausschließlich in Mund und Rachen abspielt.“ Keine großen Wunder steckten hinter der Herstellung von Zahnpflegemitteln, die bei Trybol den meisten Umsatz bringen. „Wir fliegen ja nicht auf den Mond in dieser Branche,“ sagt der Chef, die Handflächen nach oben gedreht und schiebt nach, englisch durchsetzt, weil er in den Achtzigern vier Jahre in New York arbeitete: „The name of the game in dieser Branche ist das Marketing.“ Das Aufbauschen. Blendax könne das gut, Gaba mit Elmex und Aronal auch und Colgate sowieso. Trybol und also Minder könnten es nicht. Wollten es vor allem auch nicht.

Bei Trybol wird die Zahnpasta auf Kreidebasis hergestellt. Die Kreide ist das Schleifmittel, das die Plaque, den Zahnbelag, wegkratzt. „Fertig“, sagt Minder. „Das ist ehrlich,“ schiebt er nach. „Auch wenn unsere Zahncreme natürlich nicht so schön schäumt wie eine normale.“ Aber man möchte ja nicht Schaum schlagen bei Trybol. Wie die Konkurrenz. Die brächte Fernsehwerbung und hämmerte den Leuten ein: Blau ist das Fluor, das den Zahnschmelz härtet und vor Karies schützt, grün sind die vielen Kräuter und rot sagt dem Zahnbelag den Kampf an.

„Völliger Schwachsinn,“ ruft Minder in den Raum. „Das ist doch alles nur Farbstoff. In der Tube ist alles weiß.“ Nur auf dem Weg nach draußen streife der Inhalt vorbei an Farbstofftaschen, die am Tubenhals angebracht sind. Dann erst werde die Zahnpasta blau, grün, rot. Und bei Elmex spiele man das ganze Zahnarztimage als medizinische Zahnpasta. Aminofluor, sagen die, sei besser als Monofluorphosphat. Da könne er nur lachen, vergisst Minder nun im Groll, dass sein Gegenüber Laie ist.

Apotheken, kleine Drogerien, Friseure. Das ist die Kundschaft von Trybol. Bei den Großen habe einer wie Minder keine Chance. Migros, DM, Rossmann. Da würde es Trybol nicht mal auf Fußhöhe schaffen. Von teurer Augenhöhe gar nicht zu reden. Zu klein das Budget. Zu bescheiden der Anspruch. Sagt Minder. Konzerne wie Beiersdorf mit Nivea oder, eben, Colgate. Die stünden überall auf den Topplätzen. Bei den großen Ketten und dann noch auf Augenhöhe. Koste ein Vermögen an Listungsgebühren, Geld, dass Handelsketten dafür verlangen, in ihren Regalen stehen zu dürfen.

Was Minder ärgert, ihn aber nicht um den Schlaf bringt. Denn er ist ja nicht Zahnpastafabrikant allein. Das wäre ihm zu wenig. Dieses Schielen auf materiellen Erfolg, auf Gewinne, die sich allein in Zahlen messen. Diese Krise vor wenigen Jahren: „Woher kam die?“ fragt Minder. Und antwortet sich selbst: „Von der Gier.“

Im Ort ruft man ihn den Schrecken von Neuhausen. Und meint das nicht böse. Im Radio ist seine Stimme bekannt und bei Aktionärsversammlungen auch sein Gesicht. Vor einigen Jahren gründete er die „eidgenössische Volksinitiative gegen die Abzockerei.“ Weshalb? „In den letzten Jahren sind die Vergütungen des Topmanagements in börsennotierten Unternehmen geradezu explodiert. Ob in der Schweiz oder in Deutschland. Millionengehälter sind zum Standard geworden. Der Vorstandsvorsitzenden von Schweizer Konzernen nehmen sich 10 Millionen Franken pro Jahr, manche 20, andere sogar 30 Millionen. Manche kämen heute auf einen Stundenlohn von 13 000 Franken und somit 580-mal so viel wie der gesetzliche Minimallohn.“ Er unterbricht seine Rede für einen schnellen Schluck Kaffee, obwohl der eigentlich nicht gut sei für die Zähne, einen Belag hinterlässt, der zum Hartnäckigsten gehört, was Trybol zu bekämpfen hat. „Wenn ein Unternehmen schon mal sechs Milliarden Reingewinn gemacht hat, dann soll es doch nicht schon die achte anstreben auf dem Rücken derer, die die Papierkörbe leeren oder am Schalter sitzen.“ Diese Sätze seien übrigens Teil von Vorträgen gewesen, die er regelmäßig auf Hauptversammlungen von Großkonzernen halten würde. „In der Regel als Outlaw, der von den Vorständen behandelt wird wie schlechte Luft.“ Minder holt nun selbst kurz Luft, dann sagt er: „Die Gier ist noch nie der richtige Ratgeber gewesen.“ Und die größten Fehler passierten immer dann, wenn zu viel fremdes Geld zur Verfügung steht.

Minder steckt all sein Geld in die Firma, die er 1989 vom Vater übernahm. Damals war er noch angestellt bei Rank Xerox in Zürich, war Produktmanager für die neuartigen Faxgeräte. Dann rief ihn der Vater an, Hans, ermüdet vom Kampf in der Nische. Gab Thomas, der 27 war, einen Tag, zu entscheiden, sonst verkaufe er. An irgendjemanden. Thomas entschied sich, zu übernehmen, „viel zu früh“, pendelte fortan von Zürich nach Neuhausen, zog schließlich ganz in das Haus der Trybol, in dem 1913 sein Urgroßvater Werner mit der Herstellung von Zahnpasten und Mundwässern begann. Thomas Minder bewahrt noch alte Schreiben auf aus dieser Zeit, schiebt eines über den Tisch. „Mit diesem Schreiben erlaube ich mir, Sie höflichst zu bitten, mir 1 Flasche Trybol zu übersenden. Seit wir dieses Heilmittel in unserer Haushaltung anwenden, können wir nicht mehr ohne dasselbe sein. Benutze dasselbe als Mundwasser jeden Morgen und fühle seither keine Zahnschmerzen mehr. Möchte daher jedermann Ihr Trybol empfehlen. Achtungsvollst zeichnet Frau Schlatter."

Wenn es ihm schlecht geht, ein Auftrag storniert wird oder er wieder an einem seiner Mitarbeiter verzweifelt, „weil ich als kleine Klitsche ja nur second-class-Leute bekomme,“ dann widmet er sich der Lektüre solcher Briefe. Weil Minder ja mit und an seiner Firma leidet. „Für mich ist 24 Stunden Trybol, sieben Tage die Woche,“ sagt er. Neben dem Bett liegen Kuli und Block immer griffbereit. Wovon er oft Gebrauch macht, sagt Minder. Auch nachts. Weil da oft die besten Ideen kämen. Zum Unmut seiner Frau. Wie die Sache mit dem Mundspray vor zwei Jahren, heute als „trybol Mundspray clip fresh“ ein solider Artikel im Sortiment der Firma.

Minder kennt sich aus mit der Tubenabfüllmaschine im ersten Untergeschoss der Firma, mit der Etikettiermaschine im zweiten Untergeschoss, ist in der Lage, Mundwässer selbst zu mischen im Labor, Erdgeschoss. Und sobald mal ein Auftrag keinen Aufschub duldet, geht er am Samstagmorgen nach dem Frühstück zur Haustüre hinaus, öffnet die Firmentüre und taucht erst Sonntagabend wieder in seiner Wohnung auf. Verbringt ein Wochenende allein in seiner Firma, „die mein Kind ist.“

Thomas Minder wird nun nervös. Es ist Freitagnachmittag, kurz nach 17 Uhr, außer Minder keiner mehr im Haus. Und jetzt – vernimmt man schwach das Klingeln eines Telefons. Zwei Mal. Ein drittes Mal und dann ein viertes. Minder entschuldigt sich. Dann steht er auf und wird hektisch. Erreicht den Anruf rechtzeitig. Legt kurz darauf wieder auf und kommt zurück. „Falsch verbunden,“ sagt er und lächelt angestrengt. Hätte ja wichtig sein können.