Playmobil

Als er im Februar 1972 das Patent anmeldete unter dem Aktenzeichen P 2205 525.0-15, hatte Horst Brandstätter gemischte Gefühle. Euphorie, dass er damit einen Welterfolg landen und seine Firma in eine andere Dimension führen würde, gehörte nicht dazu. Eher nüchterne Hoffnung. So nüchtern wie auch die Beschreibung damals lautete für das eingereichte Patent: „Spielzeugfigur mit einem nach unten offenen Körper.“

Es wurde ein Welterfolg. Ein 7,5 Zentimeter hohes Männchen aus Plastik. Besser bekannt unter dem Namen, den man ihm zur ersten Vorstellung auf der Nürnberger Spielwarenmesse 1974 gab: Playmobil. Im Jahre 2013, knapp vierzig Jahre nach dessen Einführung, bevölkern über 2,6 Milliarden seiner Artgenossen die Kinderzimmer der Welt. 

Horst Brandstätter, intern seit je her „HoB“ genannt, 81 Jahre alt, Träger des Bundesverdienstkreuzes, Milliardär, sitzt wie jeden Vormittag auch an diesem Morgen wieder in seinem Büro in der weiß getünchten Firmenzentrale im fränkischen Zirndorf, Brandstätter Strasse 2-10. Noch immer ist er Alleineigentümer von Playmobil, auch wenn er die operative Führung längst abgegeben hat. 

Das Büro ist nicht sonderlich groß, Teppichböden, die Anfang der Neunziger modern waren, als hier die neue Zentrale gebaut wurde, in der Ecke ein alter Röhrenfernseher, im Regal einige übergroße Playmobil-Figuren, auf seinem Schreibtisch in Originalgröße, an der Wand Sinnsprüche, darunter: „Wer glaubt etwas zu sein, hat aufgehört, etwas zu werden.“ Brandstätter ist ein großer Mann, noch immer drahtig, früher begeisterter Sportler, akkurat gestutzter Oberlippenbart, blauer Pullover über weißem Polohemd. Nur beim Sprechen merkt man ihm das Alter an. Zwischen seinen Sätzen in schwerem fränkischem Akzent braucht er längere Atempausen. 

Er nickt nun und klopft leicht mit der rechten Hand auf den Schreibtisch. „Fangen wir an?“ Zeitverschwendung gehörte noch nie zu seinen Tugenden und nun im Alter noch weniger. „Playmobil“, sagt er und nimmt ein Indianer-Männchen in die Hand, „war sicherlich das Bedeutendste in meinem Leben.“ Dass ihn bis heute praktisch genau die Hälfte dieses Lebens lang begleitet habe.

Als er Anfang der Fünfzigerjahre mit 19 Jahren in das Unternehmen seiner beiden Onkel einstieg, beschäftigte sich die kleine Firma hauptsächlich noch mit Metallspielzeug. Kaufmannsläden, Waagen, Registrierkassen, so etwas. Die Kinder der Nachkriegszeit waren damit noch zu begeistern. Aber der junge Brandstätter erkannte rasch, dass der Trend zu Spielzeug aus Kunststoff gehen würde. Der war modern und amerikanisch. Fortan produzierte man, auf Drängen des überaus durchsetzungsstarken Neffen, der seinen Anteil am Unternehmen vom gefallenen Vater vererbt bekommen hatte, Hula-Hoop-Reifen, Traktoren, Sprechanlagen, Öltanks aus Plastik. Doch Anfang der Siebziger stieß man auch damit bald an Grenzen. Zu hoch waren die Kosten, den Forderungen des Handels zu entsprechen und jedes Jahr etwas Neues auf den Markt zu bringen. Musterentwicklung, Formenbau, damals schon aufkommender Preisdruck aus dem Fernen Osten. Nicht zu schaffen auf die Dauer.

„Wir mussten also ein Spielzeug entwickeln,“ sagt Brandstätter in sein Büro, „bei dem eins zum anderen passt.“ Dass man immer erweitern könnte, in einem Jahr ein Auto, im nächsten eine Garage. Und, genauso wichtig, etwas Lebendiges sollte im Mittelpunkt stehen, mit dem Kinder sich identifizieren könnten, „irgendein Männchen vielleicht.“

Mit diesen Vorgaben ging er zu jenem Mann, den er 1958 als Musterbauer für die Spielzeugentwicklung eingestellt hatte. In Brandstätters denkwürdigstem Bewerbungsgespräch: „Er sagte kein Wort.“ Trotzdem habe er sofort ein gutes Gefühl bei ihm gehabt. Eingestellt per Handschlag. Hans Beck, Jahrgang 1929, war gelernter Tischler und besessener wie genialer Tüftler. Der beleidigt war, wenn man ihm zur Orientierung Muster zeigte. „Ohne den hätte es Playmobil nie gegeben,“ sagt Brandstätter, „ich war ja nur der Kaufmann.“ 

Beck arbeitet in ruhigen Stunden über zwei Jahre an der Umsetzung der Idee. Überlegt, zeichnet, schreibt Ideen nieder. Studiert Kinderzeichnungen. Legt und setzt sich auf den Fußboden. Kinderperspektive. Schnitzt Prototypen. Die Idee reift heran: eine Figur,  7,5 Zentimeter hoch. Groß genug für eine Kinderhand. Klein genug, dass eine ganze Spielwelt in ein Kinderzimmer passt. Der Kopf, wie Beck ihn aus den unzähligen Zeichnungen herauslas: Überproportional groß, rund und im Gesicht nur Augen und Mund, der stets lächelt. Keine Nase. Beweglich nur die Arme. Nicht Knie und auch nicht Ellenbogen. Das hätte die Standfestigkeit der Figur verschlechtert und sie zu technisch wirken lassen. Bei jeder Gelegenheit drückt er die Figuren den Kindern von Verwandten und Nachbarn in die Hand. Die damit hingebungsvoll spielen, in kürzester Zeit Beziehungen zu ihnen aufbauen. Beck fühlt sich bestätigt.

Brandstätter allerdings ist noch skeptisch, als Beck Anfang 1972 seine Schublade öffnet und sie dem Chef zum ersten Mal präsentiert. Heute sagt Brandstätter: „Das, was Playmobil so wertvoll macht, ist am Produkt nicht zu sehen, das findet im Kopf der Kinder statt.“ Er bohrt seinen Finger in die Schläfe: „Ich hab das erst viel später als Herr Beck verstanden.“

Trotz seiner Skepsis brachte Brandstätter die Figur zum Patentamt. Wer weiß. 1974 möchte er sie der Öffentlichkeit auf der Nürnberger Spielwarenmesse präsentieren. Allein ein Name fehlt noch. Etwas mit der Silbe „play“ soll es sein. Weil Brandstätter schon früh auch für den internationalen Markt produziert. Plaything, mobilplay. Playmobil. Das ist es. Beck entwirft für die Messe das Zubehör für die Ur-Playmos. Federschmuck und Pfeil und Bogen für die Indianer, Schubkarre und Schaufel für die Bauarbeiter, Rüstung für die Ritter. Damit  begann es.

„Brandstätter,“ sagen Kollegen auf der Messe, „das Geld hast rausgeschmissen.“ Tatsächlich läuft es nicht gut zunächst. „Naja“, sagt Brandstätter und lächelt, „die Einkäufer waren ja auch Erwachsene.“ Kurz vor Ende der Messe bestellt ein holländischer Händler Playmobil für 1 Million DM. Die Initialzündung. 1975 vervierfacht sich der Umsatz. Playmobil wird Spielzeug des Jahres.

Neue Spielwelten müssen her, Polizei, Piraten, Zirkus. 1977 kommen auch die ersten weiblichen Playmobilfiguren mit gewölbtem Bauch auf den Markt. 1981 Playmobil-Kinder. Halb so groß. Hans Beck arbeitet unter Hochdruck mit schier unerschöpflicher Kreativität. Western, Safari, Kindergarten, Bauernhof. Brandstätter sorgt dafür, dass der Aufstieg reibungslos ablaufen kann. Spritzgussmaschinen für all die neuen Formen der neuen Figuren haben eine Lieferzeit von drei Jahren. Er fährt durch die Republik und kauft 30 gebrauchte Maschinen. Das Zubehör wird in einem neuen Werk in Dietenhofen, unweit von Zirndorf hergestellt. Die Männchen stammen schon von 1976 an ausschließlich aus einem Werk auf Malta. Bis heute. Der Umsatz steigt unaufhörlich. 100 Millionen Mark im Jahr 1981. Zehn Jahre später 400 Millionen Mark. Im letzten Jahr 590 Millionen Euro. 3700 Menschen beschäftigt das Unternehmen. Entlassen wurde bis heute nie jemand.

Es könnte immer so weitergehen. „Das ist natürlich Quatsch,“ sagt dazu Horst Brandstätter, „nichts bleibt immer, wie es ist.“ Das sehe man ja schon an ihm. „Jedes Jahr wird man ein Jahr älter, da hilft auch kein Playmobil.“ Er klopft auf den Gehstock neben seinem Schreibtisch. „Jetzt brauche ich sogar schon den hier.“

Dass es aber nach seinem Tod zumindest grundsätzlich so weiter geht mit Playmobil, das hoffe er schon. Keine Panzer, keine Gewalt, kein Krieg als Spielwelt. Da sei er sich mit Hans Beck schon immer einig gewesen. Dessen Todesanzeige 2008 eine Playmobil-Figur  zierte.

Auch ein Verkauf kommt für Brandstätter nicht infrage. Geld habe er genug. Und vor allem, das solle jetzt nicht kitschig klingen: „Wenn ich sehe, wie Kinderaugen leuchten, wenn sie mit Playmobil spielen,“ er macht eine Pause, „dann darf ich dieses Unternehmen nicht verkaufen.“ Da hätte er bei einem anonymen Großkonzern Angst, dass die Kinder dann enttäuscht werden.