Kleinste Bank

„Ich hol’ Ihnen mal was,“ sagt Dürr, kräftiger Mann Mitte vierzig mit gewissem Hang zur erklärenden Rede, Inhaber von „Edeka Dürr“, Betreiber dazu einer Schweinezucht in einem großen Stall am Ortsrand von Gammesfeld, 533 Einwohner, ein Fliegenfleck von weitem, am Nordostrand Baden-Württembergs,  einer unaufgeregten Landschaft, in der alle zwei Kilometer der Handyempfang stockt und alle fünf ein Dorf in Sicht kommt.

„Hier,“ sagt Friedrich Dürr, reicht ein Stück Papier.

„Für Ungeübte“ die Überschrift, fett gedruckt.

Ein Mensch, der voller Neid vernimmt, dass alle Welt im Gelde schwimmt, stürzt in den Strom sich munter, doch siehe da: Schon geht er unter! Es müssen - wie’s auch andre treiben -Nichtschwimmer auf dem Trocknen bleiben!

Kurz noch mal nimmt Dürr das Gedicht an sich, in die rechte Hand, klatscht mit dem Rücken der linken dagegen und ruft in den Edeka: „Ha, des passt doch wie die Fauscht auf’s Auge!“ Er habe das vor kurzem mal irgendwo gelesen und es habe ihm gleich gefallen. Finanzkrise, Milliardenverluste, Firmenpleiten. Weshalb? „Alles wegen der Geldgier,“ sagt er und lächelt.

Es ist Morgen in Gammesfeld. Ende Februar. Grauer Himmel liegt auf dem Ort. Ein Traktor vibriert über die Hauptstraße. Kinder spielen im Hof der Grundschule, die es mit zwei Klassen noch gibt. Auf dem Fußballplatz schräg gegenüber wird der Rasen vom Schnee befreit für das Heimspiel am Wochenende gegen den TV Niederstetten. Dürr muss zurück an die Arbeit, in die Backstube neben dem Büro. Er ist auch Bäcker des Dorfes.

In der Welt tobt die Krise und macht Angst.

Hundert Schritte entfernt von Dürr stellt sich Peter Breiter das Frühstück auf den gefliesten Wohnzimmertisch. Süßes Gebäck und heißer Kakao. Im Fernseher vor ihm läuft n-tv, zeigt von überall her nur düstere Vorgaben. Das Vertrauen zerrüttet, die Aussichten trübe, Ifo-Index im Keller, Volkswirte erwarten bis zu 5 Prozent weniger Wirtschaftleistung. Opel am Abgrund und noch immer viele Banken, HSH Nordbank, Hypo Real Estate, zermürbt durch faule Kredite. Und mit ihnen die Mitarbeiter, die Kunden, die Anleger.

Breiter schüttelt den Kopf. „Wahnsinn,“ sagt er, streichelt seine Katze und trinkt den Kakao leer, „aber irgendwie war das doch zu erwarten.“ Er räumt das Geschirr in die Spüle auf das gestrige und das von vorgestern,  „da bin i net so pingelig,“ macht sich auf den Weg in die Landwehrstrasse 11, zwei Minuten zu Fuß.

Peter Breiter, den man im Dorf nur beim Vornamen nennt, siebenunddreißig Jahre alt, ein großer Junge mit weichen Zügen und blauen Augen, Hobbyfußballer von manchen Gnaden bei der heimischen SpVgg Gammesfeld, ist Bankchef. Seit Januar letzten Jahres führt er die kleinste Bank Deutschlands. Die Raiffeisenbank Gammesfeld eG, Landwehrstraße 11, 74572 Blaufelden-Gammesfeld, die aus nicht mehr besteht als aus Peter Breiter, der Kassierer ist, Sekretär, Kreditberater, Anlageberater, Buchhalter, ein netter Mensch und einer mit Idealen, der, um fortzuführen, was mit Ausscheiden seines 78jährigen Vorgängers das Ende bedeutet hätte, eine ansehnliche Karriere aufgab bei der ungleich größeren Volksbank im zwanzig Kilometer entfernten Rothenburg ob der Tauber, der nächstgelegenen Stadt. Früher verließ Breiter Gammesfeld frühmorgens, kehrte spät zurück, kassierte dafür das doppelte Gehalt. Jetzt arbeitet er im vorderen Teil des ehemaligen Tierfutterlagers und „ist überglücklich mit seiner Entscheidung.“ Er sieht seine Freundin nun öfter  und seine Katze und ist so nah an den Menschen „wie bei keiner anderen Bank.“ Deswegen habe er hier auch etwas, wovon viele Großbanken neuerdings nur noch träumen könnten: das absolute Vertrauen seiner Kunden.

Dürr ist einer davon und der Pfarrer, die Grundschullehrin, die siebzig Mitarbeiter von Elektro Glenk, dem größten Arbeitgeber im Ort und auch Günter Glenk, der Chef selbst. Alle. Denn es gibt keinen Gammesfelder, der nicht Kunde wäre bei der Raiffeisenbank, gegründet 1890, die für sie seit je her das „Kässle“ ist. Umgekehrt darf keiner Kunde sein, der nicht Gammesfelder ist, ob er nun aus New York kommt, aus Tokio oder nur aus dem nahen Rot am See, fünf Kilometer sanft gewellte Streuobstwiesen und Äcker entfernt.

„Das war schon der Urgedanke von Friedrich Raiffeisen,“ sagt Breiter, es ist kurz nach halb elf und er schließt die Türe auf zu seiner Bank, „eine Genossenschaft darf nur so groß sein, dass man sie vom Kirchturm aus überblicken kann.“ In Gammesfeld kann man das. Dreistellig sind die Telefonnummern im Ort. Die Kont0nummern waren es lange auch. Jetzt sind sie bei Nummer 1147 angelangt.

Die Post kommt. Hörzu, Handelsblatt und sieben Briefe Korrespondenz. Normalerweise sind es nur zwei oder drei, deren Absender Postleitzahlen aus der Region tragen und wenn nicht, dann ist es ein Brief aus der Raiffeisenzentrale in Stuttgart, dessen Inhalt oft ein Pochen darauf ist, dass sich endlich auch Gammesfeld mit ihnen elektronisch vernetzen soll. Was Peter Breiter genau wie sein Vorgänger weiter ablehnen wird. Keine Vernetzung, zu teuer so eine Standleitung zur Zentrale, 50'000 Euro Gebühren wären dafür fällig jedes Jahr. Eine kleine, ehrliche Bank will man bleiben, übersichtlich, mit 276 Genossen, die beteiligt sind mit je 300 Euro Einlage.

500 Kunden, 400 Girokonten. 800 Sparbücher, mehr als Kunden, wegen der Kinder und Enkel. 110 ausstehende Kredite über insgesamt acht Millionen Euro. 16 Millionen Spareinlagen.

Kredite gewährt man zu vier Prozent, auf Angelegtes gibt man drei. Nur ein Prozent Zinsspanne. Solche Konditionen gibt es nirgends sonst in Deutschland. Die nicht zu halten wären mit einem weiteren Angestellten und kostspieliger, technischer Ausstattung.  Keine Aktien bietet man an, keine Optionen oder Futures. Möglichst nichts, was die Gier entfachen könnte. Giro, Sparbuch, Kredit – ein wenig langweilig, aber ziemlich sicher.

Was viel wert ist in Zeiten wie diesen, wo nichts mehr sicher scheint oder zumindest das Sichere selten. Aus ganz Deutschland kommen  mittlerweile Briefe an in der Landwehrstraße, dem neuen Atlantis der Desillusionierten. Ein Arzt aus Oberursel, Taunus, wo die Bankvorstände aus Frankfurt wohnen, schrieb: „Ich habe erfahren, dass Ihre Bank sehr besonders ist und würde deswegen gerne die Geschicke Ihrer Bank unterstützen. Ich würde Ihnen gerne eine finanzielle Unterstützung anbieten. Wenn Sie Interesse haben, melden Sie sich gerne.“

Die besondere Bank ist schlicht, ein einziger Raum, zehn Meter lang, vier Meter breit. Vorne der Banktresen für die Kundschaft, darunter eine Schublade mit Duplos und  Luftballons darin für die Kleinen. Links neben der Eingangstür ein Holzbrett mit drei Kleiderhaken. Einer ist frei, an einem hängt Breiters Jacke und am anderen eine Fliegenklatsche. Weil es noch Landwirtschaft gibt in Gammesfeld und Vieh und Geschmeiß. Jenseits des Tresens  der interne Geschäftsbereich: links drei abgestoßene Schreibtische aus den Sechzigern, rechts Schränke aus demselben Jahrzehnt. Auf dem hinteren Schreibtisch ein Computer mit Internetanschluss. Sachte Annäherung an den Fortschritt. Auch hat Breiter das Telefon mit der Wählscheibe durch eines mit Tasten ersetzt.

Ansonsten aber ist alles geblieben wie es immer  schon war. Wie auch weiterhin jeden Tag geöffnet ist für die Kunden, von 12.30 Uhr bis 14 Uhr. Manchmal kommen nur fünf, manchmal bis zu dreißig. Vor allem in der ersten Oktoberwoche, wenn in Rot am See die Muswiese stattfindet, ein Volksfest, das ganz Gammesfeld in Ausnahmezustand versetzt. Edeka Dürr macht dann zu die ganze Woche und die Bank wird bestürmt, weil jeder „a Geld für d’Muswies“ braucht.

Heute ist Willi der erste, wie immer im Blaumann. Siebzig Jahre alt ist er, sein Leben lang arbeitete er auf den Äckern rings um Gammesfeld, wohnte allein in einem kleinen Haus gegenüber der Bank. Alles Ersparte bringt er seit jeher auf die andere Straßenseite.

„Kannst mal schauen, ob meine Rente schon da ist, Peter,“ fragt er, übersetzt ins Hochdeutsche, denn in Gammesfeld spricht man den weichen Dialekt der Region noch ungefiltert. „Alles da,“ sagt Breiter. „Dann gib mir mal dreihundert!“ Breiter fragt: „Kontonummer 198, oder?“ Willi lächelt: „Genau.“ Dann sagt er noch: „Du machst deine Sache gut. Das gefällt dem Fritz bestimmt!“

Der Fritz. Das ist Fritz Vogt, Breiters Vorgänger, der zuvor vierzig Jahre lang die Geschicke der Bank leitete und während dieser Zeit zu einem Original wurde im Ort. Das Zitat von Brecht, das noch heute über der Schreibmaschine hängt, hatte er einst dort angebracht: „Dass Du dich wehren musst, wenn Du nicht untergehen willst, wirst du doch einsehen.“

Es ist das Motto von Fritz Vogt, dem der Kampf um seine Bank und die Idee der Genossenschaft Lebensaufgabe war - „so lange ich hier bin, bleibt das Kässle unabhängig.“ Ein Kampf auch gegen den Zeitgeist. Schließlich schrumpfte die Zahl der Genossenschaftsbanken zwischen 1970 und 2008 von über 8000 auf 1200. „Rückzug aus der Fläche,“ nannten das die Verantwortlichen in der Geno-Zentrale in Stuttgart. Fritz Vogt nennt es „Rückzug aus der Verantwortung.“ Weil ab einer gewissen Größe die Kunden zu einer anonymen Masse würden, denen man nicht mehr ins Gesicht schauen müsse, wenn etwas schief laufe „mit dem Geld, das einem als Banker ja nicht gehört.“

Vogt sitzt am Kaffeetisch seines Hauses in der Landwehrstraße 9. Ein drahtiger Mann mit der Energie von dreien, 79 Jahre alt, die grauen Strähnen seines Haarkranzes über den kahlen Kopf gekämmt, von Soll auf Haben.

Vor einigen Jahren drehten sie einen preisgekrönten Dokumentarfilm über ihn unter dem Titel „Schotter wie Heu.“ Spätestens da wurde er zu einer kleinen Berühmtheit, wurde kurz danach eingeladen in die Talkshow von „Beckmann.“ Der ihn fragte, ob er denn, mit seinem Leumund, ein Konto in Vogts Bank eröffnen dürfe. Dürfe er nicht, beschied ihm Vogt. „Sie sind kein Gammesfelder.“

Als dann im letzten September mit der Pleite von Lehman Brothers die Finanzkrise ihren Anfang nahm, erinnerten sich die Redakteure der Talkshows wieder an die kleine Bank in der Provinz mit ihrem ebenso streitbaren wie unterhaltsamen Chef. Auch Sandra Maischberger lud ihn ein zum Thema Bankenkrise, so dass an einem Dienstagabend im Oktober ganz Gammesfeld vor den Fernsehern verbrachte, um ihren Fritz zu sehen.

Dem einst, um die Bank in seinem Sinne und dem der Genossen weiterzuführen, drei Jahre Gefängnis drohten, weil ihm die Bankenaufsicht 1984 die Betriebserlaubnis entzog und er trotzdem weitermachte, illegal. Einen hauptamtlichen Mitarbeiter sollte er einstellen, damit die Kontrolle durch das Vier-Augen-Prinzip auch in Gammesfeld gelte. Seine beiden Augen und sein Gewissen sähen gut genug, entgegnete Vogt. Erst 1990, nach zähem Ringen durch die Instanzen gab ihm das Berliner Oberwaltungsgericht die Erlaubnis zurück.

„Das war wirklich Schwachsinn damals,“ sagt Günter Glenk. „Bei uns in Gammesfeld gibt es schon immer ein anderes Vier-Augen-Prinzip: ‚Jeder kennt jeden!’“ Der Chef von Elektro Glenk sitzt in seinem Büro, um ihn herum  noch Umzugskartons, man hat neu gebaut und sich vergrößert, die Zahlen stimmen, seit einiger Zeit macht man auch erfolgreich in Solartechnik. Selbst für das Krisenjahr 2009 erzählen die Auftragsbücher von einem zarten Umsatzwachstum. Begonnen hatte alles 1987, als Glenk 20'000 DM benötigte, um anzufangen. Er ging die 400 Meter hinüber zum Kässle und sprach mit Fritz Vogt, „weil der immer auch den Menschen hinter den Zahlen eingeschätzt hat.“ Glenk bekam das Geld und später auch noch einen höheren Kredit für den Neubau.

„Jeder Gammesfelder hilft dem anderen,“ rief Fritz Vogt bei seiner Verabschiedung letztes Jahr in die Sporthalle von Gammesfeld, zu dem nicht nur alle Genossen, sondern das ganze Dorf gekommen war. Dann sagte Vogt noch, ein wenig ergriffen vom Pathos eines Abschieds: „Die kleine intakte Gemeinschaft ist die Keimzelle für das Funktionieren des großen Ganzen.“

Peter Breiter, Vogts Wunschnachfolger, der zugleich einziger Kandidat für seine Nachfolge war, sagt, dass man wahrscheinlich diese Bank mit ihrer Steinzeitausstattung nicht eins zu eins übertragen kann auf das große Ganze. Aber den Geist von Gammesfeld könne man ja vielleicht übernehmen. Dieses Konzentrieren auf das Wesentliche. Diese Nähe zum Kunden, der ja auch Mensch ist. Ganz reell.

Es ist kurz nach drei am Nachmittag. In Frankfurt blicken sie ängstlich auf die ersten Zahlen von der Wall Street. Ob es neue Hiobsbotschaften geben wird wie jene vor einigen Tagen. Als der amerikanische Versicherer AIG fast 100 Milliarden Dollar Verlust im Jahr 2008 vermeldete. Den höchsten, den es je gab bei einem einzelnen Unternehmen.

In der Raiffeisenbank begrüßt Peter Breiter um kurz nach drei einen Vertreter mit Geschenkartikeln für den Weltspartag. Breiter entscheidet sich am Ende für vierzig Lineale mit integriertem Taschenrechner, zwanzig Miniaturköfferchen mit einem Wecker darin, zwanzig Alu-Trinkflaschen und zwanzig kleine Boxen, die man an einen MP3-Player anschließen kann.

Auf dem Heimweg am Abend begleitet ihn Sorge, ob er bei der Bestellung nicht etwas maßlos war.