Bürger

Richard Bihlmaier, im sechsundsiebzigsten Jahr, das Haar grau und voll, feines Stuttgarter Schwäbisch getragen von ruhiger Stimme, sitzt wie fast jeden Tag in seinem geräumigen Büro im dritten und obersten Stockwerk der Bürger-Zentrale, Zeiss-Strasse 12, 71254 Ditzingen bei Stuttgart, Blick hinunter auf die meist verstopfte A 81 Richtung Heilbronn, und macht sich Gedanken über ein schwäbisches Kulturgut, das ihn zufrieden machte und seine Firma groß: die Maultasche.

Bihlmaier, Chef und Inhaber des Unternehmens Bürger seit Juni 1961, „schon fast in einem anderen Leben“, noch immer Gesellschafter seit Übergabe der Geschäftsleitung an den Sohn, Martin, im Juli 2013, rührt in seinem Kaffee und sagt, etwas anderes habe er sich eigentlich nie vorstellen können. Als die Verantwortung zu haben für Menschen, Maschinen, Maultaschen. Bei denen Bürger schnell zum unangefochtenen Marktführer emporstieg. Zuletzt mehr als 1,7 Millionen Stück davon herstellte jeden Tag. Und bald wohl noch mehr.

Die Bürger GmbH, Arbeitgeber von 800 Menschen,  600 davon im hohenlohischen Crailsheim, zentralem Produktionsstandort, verdoppelte in den letzten zehn Jahren seinen Umsatz auf über 170 Millionen Euro mit Klassikern der schwäbischen Küche, Schupfnudeln, Spätzle und vor allem eben, mit mehr als fünfzig Prozent Anteil am Umsatz, Maultaschen. Bekannt auch unter mundartlichem Synonym: Herrgottsbscheisserle. Fleisch in Teigtaschen, versteckt vor den Blicken des Herrgotts. Um es der Tradition nach auch am Karfreitag guten Gewissens verzehren zu können.

Tatsächlich liegt der Grundstein des Erfolgs in der Osterzeit. Damals, Anfang der Sechziger, als Richard Bihlmaier im Alter von 24 Jahren als gleich berechtigter Teilhaber in den Betrieb seines Vaters einstieg, der erst kurz zuvor das Unternehmen endgültig übernommen hatte vom schwer erkrankten Richard Bürger, dem Namensgeber bis heute. Mayonnaisen-Bürger nannte man damals noch die Firma, die 1934 auf einem Hinterhof in Stuttgart-Feuerbach gegründet worden war. Aber Mayonnaise war meist nur Ergänzung, spielte nur die Nebenrolle auf den Tellern des jungen Wirtschaftswunderdeutschlands. Entsprechend auch entwickelte sich der Umsatz nicht sonderlich dynamisch in einer Zeit, in der ansonsten das ganze Land florierte mit fast zweistelligen Raten beim Wirtschaftswachstum. So kam man an Ostern auf die Idee mit der Maultasche. Weil immer dann der Südwesten Deutschlands, der Tradition verpflichtet, Maultaschen aß in rauhen Mengen. Die bis dahin nur von Hausfrauen oder Metzgereien hergestellt wurden. In mühsamer Handarbeit. Das müsste man vereinfachen. Mechanisieren.

Monatelang experimentierte man bei Bürger. Wie verhält sich der Teig bei maschineller Herstellung? Fällt er zusammen? Welche Mischung an Schweinefleisch, Spinat, Zwiebeln, den wichtigsten Zutaten, ist die beste? 1964 schließlich kommt die erste, in einer ehemaligen Autowerkstatt selbst entwickelte Maschine zum Einsatz bei Bürger. Maultaschen vom Band. Verkaufsfahrer bringen sie in VW-Bullies unter die Kundschaft. Anfangs nur in einem Umkreis von 50 Kilometern rund um Stuttgart. Kurz danach aber schon wird man einig mit den ersten Einzelhändlern. Liegt fortan in deren Regalen. Man hatte die richtige Mischung gefunden für den Erfolg. Der von jetzt an das Unternehmen nicht mehr verlassen würde.

Richard Bihlmaier, vor dem Einstieg ins Unternehmen Abitur in Stuttgart, 1956, danach zehn Monate Metzgergehilfe in Hagen, 7 Tage-Woche, Geld angesammelt für seinen Drang, die Welt zu sehen, in die USA gegen den Willen des Vaters, ein Jahr in Oregon, Tellerspüler, ein Jahr Koch in Köln, zwei bei Dallmayr in München, Junge für alles, „mit jetzt 76 morgens nicht mehr ganz so früh im Büro“, sagt, ein wenig ergriffen von der Erinnerung, dass dieser Anfang von allem, diese erste Maschine, dieser große Erfolg gleich zu Beginn, schon etwas großartiges gewesen sei.

Vielleicht auch, sagt Bihlmaier, weil es so etwas Einfaches war. Denn die einfachen Dinge hätten oft großen Erfolg. Und die Maultasche sei ja ein einfaches, günstiges und praktisches Lebensmittel.  Meist serviert mit Soße oder in der Brühe, der schwäbische Klassiker. Fertig. Schnell isst man sie nun auch ganzjährig. Und Bürger, „König der Maultasche“, verdient bald an fast drei von vier verkauften Exemplaren.

Zur ersten Maschine gesellen sich weitere. Alle in Eigenproduktion. Die Verkaufsfahrer haben nun 100 Kilometer um Stuttgart, auch wenn sie weniger werden. Denn in den Siebzigern wird man bei vielen Einzelhändlern schon zu einer Marke. Und kommt mit kleinen Chargen auch langsam bei den Großen der Zeit ins Regal. Aus 28 Mitarbeitern im Jahr 1961 werden schnell über hundert. 1976 scheidet Richard Bihlmaiers Vater Erwin endgültig aus dem Unternehmen, bleibt ihm aber treu in einem eigenen Büro, in dem er oft noch gesehen wird. Im Jahr 2006 stirbt er im Alter von 103. „Gesund bis zum Schluss,“ sagt Bihlmaier und lächelt.

Da man in Feuerbach längst aus allen Nähten platzt, sucht man nach einem Grundstück für einen neuen Firmensitz. Wird schließlich fündig in Ditzingen, zehn Kilometer nördlich von Stuttgart. Als die neue Zentrale fertig ist, Frühjahr 1978, sagt Bihlmaier: nie mehr will ich bauen. Zu viel Stress neben all dem Tagesgeschäft. Zuhause zwei kleine Kinder. An seinem Siebzigsten, den er wie jeden runden Geburtstag zusammen mit der Belegschaft feiert, nennen sie ihn im Spaß einen Lügner. Weil er wieder baute. 1983 die neue Produktion in Crailsheim. 1986, 1990, 1995, 2000, 2002, 2007. Erweiterung des Standortes in Crailsheim. Hektar um Hektar neue Produktionsfläche. Weil der Umsatz unaufhörlich steigt. Der Absatz von Maultaschen, Schupfnudeln, Spätzle. Die Zahl der Mitarbeiter. Dort zumeist Frauen, „weil die geschickter und schneller mit den Händen sind.“ Nach Crailsheim ging man auch, weil es damals der Ort war mit den meisten arbeitslosen Frauen.

Fünfzehn, sechzehn Stunden arbeitet Bihlmaier jeden Tag zum Wohle der Maultasche und deren Verbreitung. Wochenends aber kehrt er dem Büro den Rücken, konsequent, wie es irgend geht. Reiten, Jagen, Familie. Montag frühmorgens zurück mit großem Tatendrang. Mit Sendungsbewusstsein, die Maultasche über das schwäbische Kernland  hinaus bekannt zu machen. Wobei den globalen Markt zu erobern bei Bürger seit je bedeutet, Deutschland zu erobern. Wo noch immer 75 Prozent der Kundschaft aus Baden-Württemberg, Hessen und Bayern  stammt. Nur Berlin ist noch ein nennenswerter Absatzmarkt. Der vielen Schwaben wegen, die dort leben im Exil. Nordrhein-Westfalen bearbeitet man seit längerem mit viel Marketing. Und mit dem Türöffner im Sortiment: Spätzle. „Weil die überregional einfach bekannter sind.“ Außerdem helfe Bürger auch der Tourismus. „Viele, die im Schwarzwald oder am Bodensee Urlaub machten, schreiben uns, wo gibt es diese Maultaschen.“ Ansonsten aber ist der Rest der Republik noch weitgehend weißer Fleck. Wobei das ja eigentlich auch Grund zur Freude sei. Welcher Nahrungsmittelriese habe in einem übersättigten Markt denn noch theoretisch unbegrenztes Wachstumspotenzial? Zumal die Großen, Nestle, Kraft, Unilever, diesen Nischenmarkt meiden würden. Zu viel Know how vonnöten für zu wenig Umsatz.

Und kaufen lassen will man sich bei Bürger nicht. Auch wenn man sicherlich mehr als einen Jahresumsatz für die Firma bekommen und mit 200 Millionen Euro zu den Reichsten im Land aufsteigen würde.  Aber das ist keine Option für Bihlmaier. Erst recht nicht, nachdem im letzten Jahr eine familieninterne Nachfolge geglückt ist und sein Sohn Martin nach BWL-Studium und zwölf Jahren im Betrieb die Führung übernommen hat. Der nun mit einer Frage an den Vater aus dem benachbarten Büro in den Raum tritt . 40 Jahre alt, 1,96 Meter groß, sehr schlank, weißes Hemd, weiße Hose, weiße Schuhe, er würde auch als Traumschiffkapitän eine gute Figur abgeben. „Der hat in der Jugend offensichtlich genug Maultaschen zu essen bekommen,“ sagt Richard Bihlmaier und lacht. Als er wieder weg ist, sagt er, dass er es schon ein bisschen schwerer hatte als ich. „Er ist hier reingekommen, als wir schon 600 Leute hatten. Das ist schwieriger, als wenn Sie praktisch bei Null anfangen.“ Aber er sei schon sehr dankbar, dass sein Sohn da ist. „Er macht das so gut wie ich. Mindestens.“

Zusammen entwickelten sie vor zwei Jahren auch die neueste Innovation bei Bürger, ein gewaltiger Erfolg unter dem Namen „Grillers“. Maultaschen zum Grillen, ermöglicht durch eine spezielle Rezeptur, trotzdem aber frei von sämtlichen Konservierungsmitteln und Zusatzstoffen, wie es von Beginn an ehernes Gesetz ist. Zusammen auch forcierten sie weiter das Marketing der Firma, dessen Etat mittlerweile viele Millionen beträgt. „Man darf sich nie ausruhen.“

Wie lange er noch weiter machen möchte im Unternehmen? Nach 52 Jahren? Die auch kräftezehrend waren, „denn Lebensmittel produzieren bedeutet nochmal eine andere Verantwortung als beispielsweise Schrauben.“

Noch fühle er sich fit. Und werde gefordert in der Firma. „Das ist schön,“ er lächelt, „das hält mich jung.“ Alte Leute redeten ja so gern über Krankheiten. Da rede er doch lieber übers Geschäft.