Stuttgart 21

Seit Monaten geht das nun schon so. Auf dem Weg in sein Büro im Stuttgarter Rathaus muss er jeden Morgen vorbei an diesem überdimensionierten Plakat in der Empfangshalle. „Stuttgart 21“ steht darauf, „unsere grüne Stadt.“ Und darunter ein Panorama aus Parks, glücklichen Menschen und voll verglasten Büros.

„Überall diese Jubelarien,“ stöhnt Gangolf Stocker über den Besprechungstisch, „ich kann es nicht mehr sehen.“ Die ganze Stadt sei ja voll von diesen Plakaten. „Jetzt feiern sie sich wie kleine Kinder, diese Deppen.“ Ausgerechnet die. Die ja selbst nicht mal Bahn fahren würden. Sich nur in ihren Dienstwagen chauffieren lassen. Stocker hat seit 25 Jahren schon kein Auto mehr. Und einen Dienstwagen würde er aus Prinzip schon verweigern. Wobei der Praxistest bei einem einfachen Gemeinderatsmitglied nicht droht.

Gangolf Stocker ist ein kleiner Mann von 67 Jahren im braunen Cordhemd, er war 68er, er schloss sich den Kommunisten an, ist im Herzen tiefrot und weiß sind seine noch immer dichten Haare und der Lenin-Bart. Von 1970 bis 1993 arbeitete er als Sachbearbeiter in einem medizinischen Verlag, „wo man mich mindestens 22 Jahre lang los werden wollte.“ Zu überzeugt war sein Einsatz in der Gewerkschaft. Irgendwann wurden sie ihn wirklich los. „Aber nur weil ich selber gegangen bin.“  Man kann sagen, der Protest hat es sich in Gangolf Stocker gemütlich gemacht. Was ihn, Stocker, oft ungemütlich machte, sobald er Ungerechtigkeiten oder Sinnloses für sich erkannte.

So wurde er auch das Gesicht des Widerstands gegen das, was deren Fürsprecher aus Politik und Wirtschaft von Beginn an ein Jahrhundertprojekt nannten: Stuttgart 21. „Ein Milliardengrab“, nennt es Stocker.

Tatsächlich geht es um viel. Stuttgart 21 ist das größte Infrastrukturprojekt der Republik und wohl auch das umstrittenste. Über vier Milliarden Euro geplanter Baukosten. Den gewaltigen Stuttgarter Hauptbahnhof möchte man unter die Erde bringen. Acht unterirdische Gleise verlegen. Statt wie bisher sechzehn. Die aber alle an einem Prellbock enden, weil Stuttgart ein so genannter Kopfbahnhof ist. Rein, raus. Veraltet und zu langsam befanden die Planer. Unten sollen die acht Gleise Durchgangsgleise sein und Stuttgart mit dem europäischen Hochgeschwindigkeitsnetz verbunden werden. Und oben würde der alte Hauptbahnhof, erbaut 1924 und Wahrzeichen der Stadt mit seiner Fassade aus Muschelkalk, zur Makulatur. Die gewaltigen Seitenbauten, Nord- und Südflügel, sollen abgerissen werden, nur noch die Haupthalle stehen bleiben und der Turm, auf dem seit Ewigkeiten ein Daimler-Stern kreist.

Im Jahr 1988 entwickelte ein Verkehrswissenschaftler den ersten Entwurf. Am 10. Dezember 2009 wurde der entscheidende Vertrag unterschrieben. Drei Männer schüttelten sich lange die Hände und lachten. Ministerpräsident Günter Oettinger, der dritte schon seit 1988, Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster, den der Kampf um Stuttgart 21 bereits zweimal fast seine Wahl gekostet hätte und Bahnchef Rüdiger Grube. Oettinger sprach anschließend in Mikrofone und Kameras. „Die wichtigste Botschaft des heutigen Tages ist, dass das Bahnprojekt Stuttgart 21 nun unumkehrbar ist. Ich bin allen Partnern dankbar, dass es uns in einer beispiellosen gemeinsamen Kraftanstrengung gelungen ist, dieses für das ganze Land verkehrlich alternativlose Projekt endgültig auf den Weg zu bringen.“

Ende Januar gab es noch mal eine Großdemonstration vor dem Nordeingang des Hauptbahnhofes. Zehntausend Menschen kamen. Stocker sprach und dann auch Grube, „aber der wurde gnadenlos ausgepfiffen,“ erzählt Stocker und zieht den Mund zu einem halben Lachen. Es wird wahrscheinlich der letzte Erfolg Stockers gewesen sein.

Denn ein paar Tage später werden die Bauarbeiten beginnen. Endgültig. Und feierlich. Im Gleisbereich wird man symbolträchtig einen Prellbock aus der Verankerung reißen. Weil man das Statische damit endlich beenden wolle. Dass des Kopfbahnhofs und das des Projekts. Aus einer Drucksache wird dann eine Tatsache.

Zweiundzwanzig Jahre liegen dazwischen.

„Das ist doch nur ein Zeichen für ihre Nervosität,“ sagt Stocker und runzelt die Stirn, so dass seine tiefen Falten darin zu Furchen werden. „Die wollen jetzt Fakten schaffen, weil sie den Widerstand der Bevölkerung im Nacken spüren.“ Für die Zeit der Aktion habe er schon eine weitere Demo vor dem Hauptbahnhof angekündigt.

Sein Büro im Erdgeschoss des Rathauses steht Stocker seit den letzten Gemeinderatswahlen im Juni 2009 zu, als er mit einem freien Wählerbündnis und einem klaren Nein zu Stuttgart 21 drei Sitze erkämpfte. So dass nun die etwas eigentümliche Situation besteht, dass zwei Stockwerke über ihm mit OB Wolfgang Schuster ein glühender Anhänger des Projektes sitzt. Ein eher farbloser Politiker, der seit 1997 im Amt ist und in Stuttgart 21 „eine historische Chance für die Stadt“ sah. Wohl auch für sich.

Für Stocker wurde es zum Lebensthema. 1994, kurz nachdem württembergische Landesregierung und Deutsche Bahn die erste Machbarkeitsstudie öffentlich präsentiert hatten, erstmals unter dem Begriff Stuttgart 21, ging Stocker, gerade arbeitslos, in den Widerstand. Er fand ein paar Mitstreiter, investierte, was er hatte, in 300’ 000 Flugblätter, „Flugis“, wie er sie nennt, und verteilte sie während sechs Monaten an fast alle Haushalte Stuttgarts, wobei „ich die Stadt richtig kennen gelernt habe.“ Damals wollten sie eigentlich nur Sand ins Getriebe streuen. Mehr nicht. Weil sie sich anfangs ein wenig ehrfürchtig zeigten, ob ein solch gigantisches Projekt mit einem veranschlagten Volumen von fünf Milliarden DM überhaupt zu verhindern sei. Wo sie zudem eine euphorisierte Phalanx gegen sich hatten, bestehend aus Bundes- und Landesregierung, der Bahn, vielen Gutachtern, noch mehr Unternehmen und allen regionalen und lokalen Medien. Schließlich wollte niemand ein Zukunftsverhinderer sein. Dem Fortschritt abschwören.

„Das wollten wir ja auch nicht,“ sagt Stocker, immer ein wenig nuschelnd. Schließlich könne keiner mit Verstand etwas dagegen haben, wenn die Bahn als Transportmittel aufhole im Vergleich zum Auto. Aber das sei alles viel zu groß gedacht. Sie legten Gegengutachten an, eines nach dem anderen. Anfälliger für Störungen sei ein unterirdischer Bahnhof und die Kosten würden explodieren während des Baus. Das alte Gebäude des Bahnhofs, der Bonatz-Bau, von der UNESCO vor kurzem noch zum Weltkulturerbe vorgeschlagen, entstellt. Dazu die Baustelle selbst. Stuttgart würde über Jahre am Schutt ersticken, die Feinstaubkonzentration in der Stadt dramatisch ansteigen.

Immerhin 900'000 Tonnen Erdreich müssen aus dem Boden geholt werden, um Platz zu schaffen im Untergrund. Neun Jahre Bauzeit sind vorgesehen. Inmitten einer 600'000 Einwohner-Stadt kein leichtes Unterfangen.

„Keine Ahnung,“ sagt Stocker, „wieso die nicht kapieren, was das für ein Mist ist.“

Wolfgang Drexler möchte das nicht mehr hören. Er ist Sprecher von Stuttgart 21. Ein altgedienter Landespolitiker, 63 Jahre alt, hoch gewachsen, mit randloser Brille, die er während dem Reden oft abnimmt und wieder aufsetzt. Für tausend Euro monatlicher Aufwandsentschädigung führt er neben seinem Landtagsmandat eine 15-köpfige Initiative unter dem Namen „Das neue Herz Europas.“ Die letztes Jahr gegründet wurde, den Bürgern der Stadt das Projekt auch emotional näher zu bringen.  Die von Beginn an Skepsis hegten, die nicht kleiner wurde im Laufe der Zeit. Die letzte Umfrage vor einem Jahr ergab, dass zwei Drittel der Stuttgarter das Projekt noch immer ablehnen.

„Es war ein Fehler,“ sagt Drexler, „dass wir die Bevölkerung zu wenig mit einbezogen haben.“ Was dazu geführt habe, dass Panikmacher wie Stocker, dem er in unzähligen Podiumsdiskussionen die Sinnlosigkeit seiner Einwände verständlich machen wollte, immer mehr die Oberhand gewonnen hätten. „Die den Leuten sogar jetzt noch weismachen wollen, dass man nun noch aussteigen könnte aus Stuttgart 21.“

Tatsächlich hat das Projekt mittlerweile so viel Fahrt aufgenommen, dass es kaum mehr aufzuhalten ist. Es sein denn, man ließe es entgleisen. Aber das hätte einen hohen Preis: Alle Verträge sind gemacht, Millionen schon ausgegeben, Ausschreibungen für die Baufirmen laufen und mancher Bauauftrag ist gar schon vergeben. Ein Ausstieg von Bahnchef Grube außerdem würde das Unternehmen teuer zu stehen kommen gegenüber dem Land. Allein für die Rückabwicklung bestehender Verträge wären etwa 870 Millionen Euro fällig.

„Warum auch?“, fragt Drexler, der seit Beginn begeistert war von der Idee und sich einen Überzeugungstäter nennt. Dann steht er auf und zeigt auf eine große Modellzeichnung an der Wand seines Büros. „Städtebaulich wird das traumhaft,“ sagt er.

Das Gewürm aus Gleisen, das bislang auf den Hauptbahnhof zuführt, wird es künftig nicht mehr geben. Einhundert Hektar Fläche inmitten des Zentrums werden frei dadurch. In einer Stadt, in der durch ihre von Hügeln rundum eingekesselte Lage freies Bauland ein seltenes Gut ist. Die Stadt kaufte der Bahn schon vor Jahren den Grund ab. Um spätere Spekulationen damit zu verhindern. Statt Gleisbrache künftig ein ganz neuer Stadtteil. Ein großer Park soll darin entstehen, größer als der Teil des alten Rosensteinparks, der dem neuen Bahnhof zum Opfer fallen wird. Dazu Wohnungen, Bürotürme mit viel Glas, die neue futuristische „Bibliothek 21“. „Wann bekommt eine europäische Großstadt einmal solch eine Chance,“ ruft Drexler.

Außerdem sei Stuttgart 21 ein zutiefst ökologisches Projekt. Der Anschluss an das Hochgeschwindigkeitsnetz in Europa, an die West-Ost-Magistrale Paris-Budapest, könnte nicht nur eine Alternative sein zum Auto sondern, vor allem, auch zum Flugzeug. Zumindest für die Kurzstreckenflüge vom nahen Flughafen Stuttgart. Sagt Drexler, der weiß, dass im Projekt auch ein zehn Kilometer langer Tunnel inbegriffen ist, der von der Stadt hinauf auf die Fildern führen soll, einer Anhöhe, auf der Stuttgarts Flughafen  liegt. Um so die Fahrzeit für die zwölf Kilometer von momentan fast einer halben Stunde auf acht Minuten zu verkürzen. Allerdings war Drexler auch an vorderster Front der Kritiker, als es darum ging, den Ausbau des Flughafens um eine zweite Startbahn zu verhindern.

Er nimmt wieder seine Brille ab. Reibt sich die Augen. Die letzten Wochen waren erschöpfend. Auch für ihn. Nun hoffe er, dass es damit bald zu Ende ist. Dass die anderen, eben vor allem auch Gangolf Stocker, akzeptieren, dass es jetzt nichts mehr zu verhindern gibt. Dass man vor allem den Menschen die Vorzüge klar genug gemacht hätte. Und wahrscheinlich ist er auch ein wenig froh, dass dieses Prestigeobjekt nun doch noch in Fahrt kommt. Weil ohne sein Gelingen auch die Karriere vieler Beteiligter ins Stocken geraten wäre.

Gangolf Stocker sitzt zwei Kilometer von Drexler entfernt, in Raum 015 des Rathauses, fährt sich durchs Haar und sagt: „Wir sind noch nicht auf dem Abstellgleis.“ Dann sagt er noch: „Das ist ne schöne Mafia.“ Hätte der Heimerl das mal nie erdacht.

Gerhard Heimerl. Mit ihm fing es an. Heimerl ist heute ein stilvoll gealteter Herr von 76 Jahren, der zusammen mit seiner Frau in einem Reihenhaus im ruhigen Stuttgarter Vorort Sillenbuch wohnt. Und sich darüber freut, sachlich und nur ein ganz bisschen emotional, wie es die Art ist von Wissenschaftlern, dass nun doch noch Wirklichkeit wird, was er einst erdachte, 1988.

In einer anderen Zeit schon fast. Als die Mauer noch stand, Helmut Kohl noch nicht ewiger Kanzler war und Matthias Wissmann Verkehrsminister in seinem Kabinett. Als es noch gemächlicher zuging in Deutschland. Auch auf den Schienen. Wo die bekannte, gelb-rote E103 als schnellste Lok die Intercityzüge zog. Mit 180 Stundenkilometern maximal.

Heimerl war damals Ordinarius für Eisenbahn und Verkehrswesen am Verkehrswissenschaftlichen Institut in Stuttgart. Eine geachtete Koryphäe auf seinem Gebiet, Mitglied auch im Beirat des Bundesverkehrsministeriums. Das gerade eine Großbestellung getätigt hatte. 41 der neuen Hochgeschwindigkeitszüge ICE. Die zusammen mit dem Bau von tauglichen Neubaustrecken ein neues Zeitalter einläuten sollten. Zwischen Mannheim und Stuttgart war so eine gerade im Bau. Nur hinter Stuttgart ging es nicht weiter. In Richtung München. Da sollten die Züge weiter durch das schmale Neckartal zuckeln, sobald sie Stuttgart verlassen hatten. Um dann irgendwann bei Augsburg erst wieder auf die schnelle Neubaustrecke zu stoßen. Heimerl, aus dem Fränkischen stammend, aber Stuttgart damals schon heimatlich verbunden, wollte etwas Besseres für die Stadt. Angestachelt von großem Ehrgeiz und unterstützt von seinem Talent, erarbeitete er in Monaten ein Konzept, das Nadelöhr zu beseitigen. Am Ende sah der Entwurf die Verlegung der Gleise in den Untergrund vor, einen Tunnel hinauf auf die Fildern und ab dem Flughafen eine neue Trasse kerzengerade entlang der Autobahn 8 bis Augsburg. In den Untergrund deswegen, weil man in eine Richtung musste. „Und quer durch eine Großstadt konnte man ja schlecht eine Schienenschneise legen.“

Stuttgart 21 war geboren. 22 Jahre später wird mit dem Bau begonnen. Dazwischen lagen die erste öffentliche Präsentation des Projektes, 1994, durch den damaligen Bahnchef Heinz Dürr, Ministerpräsident Teufel und eben Verkehrsminister Wissmann. Allesamt bebend vor Aufregung wie Kinder vor Heiligabend. Dazwischen lagen über 170 Stadtratssitzungen zum Thema Stuttgart 21, der vorläufige Ausstieg der Bahn 1998 aus wirtschaftlichen Erwägungen, unter Vorstandschef Ludewig, der Wiedereinstieg der Bahn, nachdem das Land mit Millionenzuschüssen sie wieder zurückholt. Es lag dazwischen ein Bürgerbegehren mit 67'000 Unterschriften für eine Volksabstimmung, die man ins Rathaus schickte, dass das Verwaltungsgericht in Mannheim für ungültig erklärte. Juristisch richtig, demokratisch zweifelhaft. Dazwischen lag der Anstieg der geplanten Kosten. Zu Beginn 2,5 Milliarden D-Mark. Ende der Neunziger zwei Milliarden Euro. 2007 drei Milliarden und am 2. April 2009 dann 4,088 Milliarden. Der endgültige Preis für das Jahrhundertprojekt.

In ein paar Tagen dann Baubeginn mit der Entfernung des Prellbocks zwischen Gleis vier und fünf.

Stocker wird draußen vorm Nordeingang eine Demonstration anführen, Drexler drinnen in die Kameras lächeln. Und Heimerl, der vor zwei Jahren einen Schlaganfall hatte und seitdem „ein bisschen gehbehindert ist,“ wird trotzdem „runtergehen in die Stadt.“ Weil er das noch miterleben möchte