Stille Nacht

Das Jahr 1816 nannten sie das Jahr ohne Sommer. Ungewöhnlich kalt ist es. Selbst im Juni noch schneit es hinunter bis in Flachland. Am schlimmsten betroffen ist Mitteleuropa. Ernten fallen aus. Millionen leiden an Hunger. Zehntausende sterben. In einer Zeit, in der halb Europa noch unter den Folgen der Kriege ächzt, mit denen Napoleon den Kontinent bis ins Vorjahr überzogen hatte. Eine Zeit für Sehnsucht nach Besserem. 

Im Kärglichen des Dorfes Mariapfarr, hundert Kilometer südlich von Salzburg, schreibt im Dezember desselben Jahres der Hilfspriester Joseph Mohr, 23 Jahre alt, unehelicher Sohn eines Soldaten und einer Strickerin, getrieben von jener Sehnsucht, ein Gedicht. Er nennt es „Stille Nacht, heilige Nacht.“ Und legt es in die Schublade des Schreibtisches, der als einziges Möbel neben dem Bett in seiner Stube steht. Dann geht er ins Wirtshaus und macht sich wie so oft unbeliebt beim Pfarrer. Der es missbilligt, dass Mohr ständig die Nähe der einfachen Leute sucht, Gitarre spielt und dazu deutsche Volksweisen singt statt Liturgien zu studieren. Bald darauf wird Mohr zwangsversetzt. Nach Oberndorf, siebzehn Kilometer nördlich von Salzburg. Ein kleiner Ort, in dem sich wenig später Historisches ereignen wird. Aus einem Zufall heraus. Weil sich dort der Lebensweg zweier Menschen für kurze Zeit kreuzt. 

An Heiligabend des Jahres 1818, vormittags, geschieht es, dass die Orgel der Oberndorfer Pfarrkirche St. Nikolaus ihren Dienst verweigert. Es wird zur unbeabsichtigten Geburtsstunde des berühmtesten Liedes der Welt. Mohr gerät in Aufregung. Der wichtigste Abend des Jahres, an dem die ganze Gemeinde zur Christmette in die Kirche drängen wird. Auf Erbauung hoffend in diesen dunklen Zeiten. Und keine Orgel. Er erinnert sich seiner Verse, die er mitgenommen hatte aus Mariapfarr. „Stille Nacht, Heilige Nacht.“ Könnte daraus nicht ein Lied werden? 

Mit dem Blatt Papier in der Hand eilt er zum Haus des Organisten von Oberndorf, Franz Xaver Gruber, einem überaus begabten Musiker. Bittet ihn, sein Gedicht zu vertonen. Für zwei Männerstimmen und eine Gitarre. Auf dass sich die Messe nicht in der Predigt des Pfarrers erschöpfe. Schon am späten Nachmittag hat Gruber die Komposition vollendet. In Dur. Weil im Leben der meisten damals schon genug Molltöne waren. Bäcker das Brot mit Sägemehl strecken mussten, Säuglinge reihenweise dahin starben. 

In der Christmette am Abend singt Mohr den Tenor, Gruber Bass. Begleitet nur durch Mohrs Gitarrenspiel.

Stille Nacht, heilige Nacht. 

Wo sich heute alle Macht 

Väterlicher Liebe ergoß

Und als Bruder huldvoll umschloß

Jesus die Völker der Welt.

Die Gemeinde beseelt. Deren Männer fast ausnahmslos Schiffer sind auf dem Fluss Salzach, an  dessen Ufer Oberndorf liegt, das Zentrum der Salzach-Schiffer. Einfaches, armes Volk. Bei der Schlusszeile, „Jesus der Retter ist da,“ stimmen schließlich alle mit ein. 

Es sollte die Welturaufführung eines Liedes werden, das heute von fast zweieinhalb Milliarden Menschen auf fünf Kontinenten gesungen wird. Übersetzt in 350 Sprachen und Dialekte. Sechs Strophen für die Ewigkeit. Keine Komposition von Bach oder Beethoven kennen so viele Menschen, keine von Mozart, keine von den Rolling Stones, Michael Jackson oder Robbie Williams. 

Ein Triumphzug, den Mohr und Gruber nicht ahnten. Zumal die große Popularität erst einige Zeit nach Mohrs Tod im Jahr 1848 einsetzte und Gruber, der 15 Jahre später starb, davon nur den zarten Beginn noch erlebte. Die Wege der beiden trennten sich bald wieder. Im Folgejahr wird Mohr erneut zwangsversetzt wie später noch weitere sieben Male. Die einzige Konstante in seinem rastlosen Leben blieb das angeborene, schwere Lungenleiden. Den lebensfrohen Gruber, dem zwölf Kinder geboren wurden von drei Frauen, sah er nie mehr.

Keiner wüsste heute besser Bescheid über die beiden unterschiedlichen Leben und das Eine, was sie gemeinsam schufen,  als Wilhelm Gstöttner, der ein wandelndes Lexikon ist im Alter von 84 Jahren und sich selbst als einen Botschafter des Stille Nacht-Liedes bezeichnet, das er wiederum eine „vertonte Friedensbotschaft“ nennt. Seit langem führt er jedes Jahr ab Oktober bis hin zum Heiligen Abend die vielen Tausend Besucher durch das kleine Stille Nacht-Viertel des ansonsten von schmuckloser Gegenwart geprägten 6'000 Einwohner-Städtchens Oberndorf. Zu dem die Stille Nacht-Kapelle gehört, die auf dem Grund der St. Nikolaus-Kirche errichtet wurde, weil die nach dem Jahrhunderthochwasser von 1906 abgerissen werden musste. In der links neben dem Altar das Konterfei von Franz-Xaver Gruber hängt, historisch verbürgt, und rechts jenes von Joseph Mohr, der Fantasie entnommen. Beide bekränzt mit einem Tannenzweig. Auch gehört zum Ensemble des Viertels das Stille Nacht-Museum, ein Stille Nacht-Weihnachtsmarkt und ein Stille Nacht-Cafe. 

Gstöttner begrüßt an diesem Morgen kurz vor Weihnachten wieder einen Bus mit „meinen liebsten und treuesten Besuchern.“ Japanern. „Die sind so was von freundlich.“ Nur dass sie ihn anfangs meist gerne Führer nennen, mag er nicht. Aber das gewöhnt er ihnen meist schnell ab. Gerade im Zusammenhang mit einem solchen Lied des Friedens sei das ein Unwort. Schlimm genug sei ja schon die geographische Nähe zu Hitlers Geburtsort Braunau, der nur knapp vierzig Kilometer entfernt liegt von Oberndorf. 

Zu Beginn jeder Führung bittet Gstöttner die Besucher stets in die Kapelle. Vor allem bei Japanern und Chinesen sei das meist jedoch gleichzeitig auch die letzte Station. Sie kommen aus Salzburg, von Mozarts Geburtshaus und müssten dann schnell weiter Richtung Bayern, Neuschwanstein, Hofbräuhaus, oder, wie heute, zum Schloss der Thurn und Taxis nach Regensburg. Herr Tanaka aus München, der Übersetzer, ein Mann mit Talent zu begeistertem Staunen, dass sich oft in einem hohen „Ahh“ Bahn bricht, klopft nach zwanzig Minuten lächelnd auf seine Uhr. Danach Klatschen, Lachen und dankbar nickende Köpfe. Höfliche Zeichen für Gstöttner, seine Ausführungen zu beenden. Ein letztes Foto, dann gehen sie in Richtung Bus. 

Grundsätzlich zwei Erklärungen gebe es für den großen Erfolg des Liedes, sagt Gstöttner, der sich seit der Kindheit an keinen Heiligabend erinnern kann, an dem nicht „Stille Nacht, Heilige Nacht“ gesungen wurde. Zunächst einmal sei es ein sehr einfaches Lied. Kein Kunstlied. Leicht mitzusingen. „Dazu diese Musik,“ sagt Gstöttner, „dieses Herzergreifende und Feierliche für die armen Schweine damals.“ Dann sagt er, nun selbst ein wenig beseelt: „Die Zusammenarbeit der beiden war eine Sternstunde der Menschheit.“  

Fast nüchtern klingt es, als er zu einer letzten Erklärung kommt. Denn für die weltweite Verbreitung sei vor allem wichtig gewesen, dass keine spezifisch religiösen Elemente im Liedtext vorkommen. Nichts, womit der Katholik Joseph Mohr nur die Katholiken ansprechen wollte oder zumindest nur das Christentum. Keine Marienverehrung beispielsweise. Vielleicht erklärt das auch, warum fast zweieinhalb Milliarden Menschen das Lied singen, obwohl es nur etwa zwei Milliarden Christen gibt. Was vor allem an der vierten Strophe liege, die endet mit den Worten „und als Bruder huldvoll umschloß Jesus die Völker der Welt.“ Da sei schon dieses Internationale herauszuhören. Die Friedensbotschaft eben. 

Das sieht auch Renate Schaffenberger so, Geschäftsführerin der Stille-Nacht-Gesellschaft, eines Vereines, der sich ausschließlich dem Erbe des größten Hits der Geschichte widmet. Wo man sich auch damit beschäftigt, wie dieses Lied in Zeiten ohne Youtube, ohne Massenmedien, ohne Plattenlabels, als Folge letztlich nur eines einzigen Live-Auftritts so berühmt werden konnte. Dessen Wirkung so stark war, dass man an verschiedenen Kriegsschauplätzen im ersten Weltkrieg während der Feiertage für kurze Zeit die Waffen niederlegte, um es zu singen. Dass einen Amerikaner dazu brachte, 1992 in Frankenmuth im US-Staat Michigan ein „Christmas Wonderland“ zu eröffnen, in dessen Zentrum eine originalgetreue Kopie der Stille Nacht-Kapelle steht. 

Tatsächlich geriet das Lied zunächst für Jahre in Vergessenheit, ehe ein  Mann namens Carl Mauracher, Orgelbauer aus Salzburg, sich wieder interessierte für das Stück, das handschriftlich in Organistenkreisen der Region kursierte. Der es fortan mitnimmt auf seine Dienstreisen. Im Zillertal gibt er es der Sängerfamilie Strasser, die es begeistert integriert in ihr Repertoire, dass sie darbietet auf Jahrmärkten in ganz Österreich, der Schweiz und auch Deutschland. Da in den Jahren der Armut viele Menschen auswanderten in die USA, gelangte auch eine Abschrift von „Stille Nacht, Heilige Nacht“ über den Ozean. So dass im Jahr 1839 eine Darbietung vor der New Yorker Trinity Church gegeben wurde. Wo man es auch hörte, zeigte man sich angetan von „diesem ächten Tiroler Volkslied.“ Dessen Verfasser man nicht kannte. 

Erst im Jahre 1854 ging die Preußische Hofmusikkapelle in Berlin der Sache auf den Grund und schickte eine Anfrage nach Salzburg, die genaue Urheberschaft zu klären. Wochen der Nachforschung später kamen Gesandte aus Salzburg nach Hallein, einer Hochburg des Salzabbaus, den ehrwürdigen Chorregenten der Pfarrkirche zu treffen. Zu dem war Franz-Xaver Gruber in den Jahren geworden. Siebzig Kompositionen hatte er geschrieben seit seiner Zeit in Oberndorf, Messen, Choräle, Kantaten. Und nun, 68 Jahre alt, gelangt er spät zu wahrem Ruhm; indem er den Gesandten eine „authentische Veranlassung“ mit auf den Rückweg gibt. In der er niederschreibt, wie das Lied zustande kam und wer dessen Verfasser sind. 

Joseph Mohr ist da schon sechs Jahre tot, nachdem man ihm durch den Verkauf seiner Gitarre ein Armenbegräbnis in Wagrain, seiner letzten Wirkungsstätte, finanziert hatte.  

Längst sind die beiden Staub. Keiner mehr berühmter als der andere. Keiner reicher. 

An Heiligabend, am Tag ihres unwissentlich größten Triumphs, werden sie wieder besungen. Von Millionen. Von Milliarden. Unter denen kein Krieg ist dann und kein Streit.