Seniorenknast

Die Zeit hier, vier Jahre schon, kommt ihm manchmal vor wie ein Stachel, mit dem man in seine Biographie sticht. In sein Leben. Jenes vor dem Knast. In dem er eine gute Kindheit hatte, Erfolg in seinem Beruf als Handelsvertreter, zwei wohlgeratene Töchter und zwei glückliche Ehen, letztere seit über zwanzig Jahren. Dann die Verurteilung. Sechs Jahre Freiheitsstrafe wegen Anlagebetrugs.

Ein paar Wochen später war Kramer unterwegs im ICE von seiner Heimat im Nordbadischen nach Singen, um mit 67 Jahren ein neues Leben zu beginnen. Statt in Rente in den Knast zu gehen. Im Bordbistro trank er noch mal einen „schönen“ Kaffee, schaute hinaus in die fliehende Landschaft und dachte darüber nach, was ihn erwarten würde.

Fritz Kramer, 71 Jahre alt mittlerweile und noch immer eine gute Erscheinung, frisch rasiert, die grauen, aber vollen Haare in Form gebracht, sein Blick der eines neugierigen Kindes, der nur in manchen Momenten trüb wird vor Melancholie.

Den größten Teil seiner Haftzeit, sechs Jahre,  Jahren sitzt Kramer nun in Deutschlands einzigem Seniorengefängnis in Singen, einer Kleinstadt im Süden Baden-Württembergs, Erzbergerstraße, in die gelangt, wer von der Freiheitstraße abbiegt. Hausnummer 32.

Für gut zwei Drittel aller 52 Insassen in Singen ist der Knast eine ganz neue Erfahrung. Wie auch für Kramer, der, blickt er zurück auf sein Leben, sagt, dass er mit sich selbst doch immer im Reinen war. „Ich musste mich nie finden. Ich habe mich immer getroffen.“ Ende der Neunziger sollte ein stattliches, selbst gebautes Haus das Glück abrunden. Kramer begann, sich für Baufinanzierungen zu interessieren, „weil es bessere Lösungen geben musste als den Schrott, den die Banken immer anboten.“ Als das Haus stand, sattelte er ganz um vom Brillenvertreter auf Kreditvermittler. „Was lange Zeit gut lief.“ Bis zu der Sache mit dem neuen Geschäftspartner aus Amerika. Kramer kassierte Vermittlungsgebühren für günstige Baukredite. Sein Partner aber zahlte die Kredite später nicht aus. Der Richter befand, Kramer habe gemeinsame Sache gemacht mit jenem. Betrug in 34 Fällen, fünf Jahre. „Auslegungssache,“ sagt  dazu Kramer kurz und ernst, der sonst immer viel lacht. Ein Mensch, dem man leicht etwas abkauft.

Das Gefängnis: ein zweistöckiges, gelb getünchtes Gebäude mit vergitterten Fenstern inmitten eines Wohngebietes mit vielen Schulen und gutbürgerlichen Häusern. Im Anschluss ein großer Hof, umschlossen von einer fünf Meter hohen Mauer. Ohne Stacheldraht. Ausbruchsversuche gab es noch nie seit Gründung der Haftanstalt 1970. Wie eine natürliche Fußfessel wirkt, dass das Eintrittsalter hier bei 63 Jahren liegt.

Der älteste Häftling in Singen derzeit ist 80. Mord. Ein paar Jahre hat er noch abzusitzen. Vielleicht wird er hier sterben. Lebenslänglich bedeutet hier manchmal tatsächlich lebenslänglich.

Fritz Kramer möchte daran nicht denken. Sind ja nur noch zwei Jahre. „Und ich bin ja noch ein junger Kerl,“ sagt er und versucht ein Lächeln durch den kunstvollen Schnauzer. Hier drin sei es doch im Grunde genommen nicht schlecht. Die Zellen nach dem Aufstehen den ganzen Tag geöffnet, der große Hof mit Bänken, Bäumen, Kräutergarten und einem Teich mit Karpfen immer zugänglich. Obwohl man Kramer dort erst nachmittags findet. Tagsüber arbeitet er für 1,50 Euro die Stunde in der Gefängnisküche, bereitet oft Diät-Kost zu, weil viele der Gefangenen an Diabetes leiden. Wie die meisten Insassen müsste Kramer nicht mehr arbeiten. Wie draußen beginnt auch hier drinnen das Rentenalter mit 65 Jahren. Trotzdem tut fast keiner nichts.

„Man darf nie die Zeit haben, um mit dem Grübeln anzufangen,“ sagt Kramer in weißer Küchenkluft, auf dem schmalen Bett seiner Zelle sitzend, „sonst kommen die Gedanken über das Gefangensein.“ Und  genauso darüber, dass die eigene Zeit nicht mehr endlos ist.

An den Wänden keine Bilder seiner Familie, „das macht die Trennung nur bewusster,“ dafür ein Foto von Joschka Fischer zusammen mit Daniel Cohn-Bendit. Kämpfernaturen. Wie sich auch Kramer sieht, wenn er nicht gerade wieder mitten in der Nacht aufwacht, wenn die Sinne am schärfsten sind. Dann liest er meist einen der Briefe seiner Frau, um sich zu beruhigen. Oder den Wirtschaftsteil der FAZ. Weil der so herrlich wenig zu tun hat mit dem eigentlichen Drama des Lebens und des Alterns.

In seinem Büro im Erdgeschoss, Immergrünes vor vergitterten Fenstern, sitzt Thomas Maus, 48, ein drahtiger Mann mit randloser Brille und hoher Stirn, Leiter der JVA Singen. Grau ist er geworden in den 29 Jahren, seit denen er jeden Morgen um halb acht durch die schwere Doppeltür den Knast betritt.

Auf seinem Schreibtisch hat Maus Statistik ausgebreitet. 1992 nur 1,5 Prozent der Straftäter in Deutschland über 60 Jahre alt, acht Jahre später 2,1 und schon 2,9 Prozent im Jahr 2008. „Die Gesellschaft wird älter und damit auch ihre Straftäter,“ sagt Maus aus schmalem Gesicht. „Außerdem sind viele Senioren länger gesund und damit länger auf dem Markt für Straftaten.“

Hinter Maus geht der Blick auf den Gefängnishof, wo unten auf der Bank drei Männer nebeneinander sitzen und in die Morgensonne blinzeln. Immer wieder dringen von den Schulen in der Nähe Gongschläge herüber und erinnern an längst vergangene Zeiten. „Dass es uns gibt, ist für die meisten hier ein Glück,“ sagt Maus.

Menschen würden mit steigendem Alter ja oftmals ängstlicher. „Und Angst ist im Knast kein guter Ratgeber.“ Im normalen Vollzug bildeten sich nach kurzer Zeit klare Hierarchien. An deren Spitze die Starken und Angstfreien stünden. „Ein Älterer dagegen ist in Stammheim oder Stadelheim meistens ein armer Tropf, der den anderen die Schuhe putzen muss.“ Maus lächelt: „Das fällt bei uns weg.“ Weil es keine Drogenprobleme gibt, keine Gewalt und keine mafiosen Strukturen. Vielleicht mal eine Schubserei oder ein  kleines Wortgefecht.

„Aber,“ spricht Maus gegen falsche Vorstellungen, „es bleibt auch hier immer noch Vollzug hinter Gittern.“ Trotz Hof und Teich und Kräutergarten, gesundem Essen, Arztsprechstunde jeden Montag, Besuch vom Seelsorger jeden Donnerstag und von den Angehörigen bis zu sechs Stunden jeden Monat statt einer wie anderswo üblich. „Damit nichts zerbricht, was sowieso schon bröckelig ist.“

Keine Kleinkriminellen sitzen in Singen. Die durchschnittliche Haftdauer liegt bei fünf Jahren. Betrug, sexueller Missbrauch, Morde. Je zu einem Drittel.

„Viele unserer Insassen werden aus einem Gefühl von Leere zu Betrügern,“ sagt Maus. Kein Beruf mehr, keine Aufgabe. Und dann vielleicht die späte Chance auf das große Geld, von dem doch fast jeder irgendwann einmal geträumt hat im Leben. Zumal für Betrüger graue Haare manchmal sogar von Vorteil sind: sie wirken seriöser und erfahrener.

Wenn ein Mörder oder Totschläger in Singen eingewiesen wird, erzählen die Akten fast ausschließlich von getöteten Ehefrauen. Erzählen von Ehen, die sprachlos geworden sind in langen Jahren, isoliert in den eigenen vier Wänden, in denen Liebe erst in Gewohnheit umschlug und dann in Hass. Wobei Maus künftig weniger Tötungsdelikte erwartet. „In dieser Generation trennte man sich ja selten.“ Man blieb zusammen, auch wenn es hinten und vorne nicht mehr passte. Was sich heutzutage grundlegend geändert habe. Zumindest dies sei ein Vorteil höherer Scheidungsraten. Andere, deren Erfolg bei Frauen schwinde, vergriffen sich an Kindern. Alterspädophile.

Zwei Stockwerke über Maus’ Büro stemmt ein kleiner Mann mit muskulösen Armen 7,5-Kilo-Hanteln zur Brust. Klaus Markowitz, 71, der im Gespräch lange ein Betrüger sein will und sich erst kurz vor der Verabschiedung bekennt zu „einem unschuldig verurteilten Sexualstraftäter“, verbringt hier oben mindestens eine Stunde jeden Tag. Im Folterraum, wie sie ihn nennen, der von der Anstaltsleitung eingerichtet wurde, um körperlichem Verfall zu trotzen und der Langeweile. An den Wänden hängen Abbildungen von der Wirbelsäule, der menschlichen Muskulatur, dem Verdauungssystem. Und eine Liste häufiger Herzerkrankungen.

Trotzdem wird hier keiner eingesperrt, der nicht noch einigermaßen beisammen ist. Keine Aufzüge gibt es in Singen und kein Insasse ist auf die Hilfe eines Rollators angewiesen. Ganz Gebrechliche bekommen entweder Hafterlass oder werden in einem Gefängniskrankenhaus untergebracht.

Markowitz, fast sechs Jahre schon in Singen, ist Vorarbeiter in der Gefängniswerkstatt, wo bis zum frühen Nachmittag Dübel und Schrauben gezählt und eingeschweißt werden, er leitet zwei Mal die Woche eine Gymnastikstunde für müde Knochen, ist Gefangenensprecher und lässt sich seit Jahren zum Diakon ausbilden. „Ich tue das alles, weil ich mein ganzes Leben lang nicht still sitzen konnte.“ Und er tut es im stetigen Kampf gegen seinen selbst erklärten Feind: die Zeit. Die hier drinnen manchmal zäh ist wie der Nebel im Winter über dem nahen Bodensee.

Markowitz blickt auf die Uhr, legt die Hanteln zur Seite. „Mittags um zwei kommt immer die neue Lieferung Dübel.“ Es könnte auch ein anderer die Dübel in Empfang nehmen. Aber er hält sich da gewissermaßen für schwer entbehrlich. In der Zelle tauscht er das ärmellose Shirt gegen ein Jeanshemd. „Ich bin rein hier mit Hemdgröße 38, jetzt hab ich 41,“ sagt Markowitz mit norddeutschem Akzent, der seine ersten Jahrzehnte in Hamburg verbrachte. „Richtig Muckis“ habe er bekommen hier. Durch eiserne Disziplin. Auf seinem Schreibtisch liegt die Bibel, daneben das „Konzilshandbuch“ der Katholischen Kirche. „Ich bin gerade beim Kapitel Offenbarung.“ Darüber hängen Bilder seiner Enkel, der beiden Töchter. Auch von seiner ältesten, wegen deren Missbrauchs er verurteilt wurde. Seine Frau habe ihn angezeigt und die Tochter beeinflusst. Die ihn übrigens jeden Monat besuchen komme und dann fast immer weinen müsse, ihn hier drinnen zu sehen. „Täte sie das, wenn die Anklage stimmte?“ fragt Markowitz. Von den Beamten bestätigt keiner Besuche der Tochter.

Der Seelsorger der JVA, Gerold Bührer, ein ruhiger Mann von 59 Jahren, „der wahre Christ ist kein Moralist“, sagt, viele, die zum ersten Mal einsäßen, leugneten ihre Vergehen. Sexualstraftäter sowieso. Doch auch die Betrüger. Ein Reflex, der sie die Schmach vergessen machen soll, ein langes, rechtschaffenes Leben am Ende noch beschädigt zu haben. Zugleich strebten hier viele, für die der Tod nahe gerückt ist, nach Sinn, Halt und Geborgenheit. Mindestens zwanzig Insassen besuchen regelmäßig die Gottesdienste Bührers, die er alle zwei Wochen im Kellerraum der Anstalt abhält.

Auch Helmut Schulze. An diesem Nachmittag wie jedem hier, die Arbeit in der Werkstatt gerade beendet, beugt sich Schulze, im siebzigsten Jahr seines Lebens, in der tätowierten Hand eine Zigarette, am Bund der Jeans ein Anhänger mit der Mutter Gottes, über den Fischteich, auf der Suche nach „Erwin“, dem Gefängniskarpfen, und sagt: „Das hier ist mein bisher schönster Knast.“

Schulze, die dunkelgrauen Haare zur Tolle toupiert, seit der Jugend glühender Fan von Elvis, ist ein Mann mit gewisser Karriere. Vier Mal verheiratet, elf Kinder. Und, „Singen mal nicht eingerechnet,“ fünf Mal im Gefängnis. Betrug in den Sechzigern, Diebstahl und Körperverletzung in den Siebzigern, in den Achtzigern noch mal Betrug und Anfang der Neunziger ein Einbruch.

Jetzt sitzt er wegen wiederholten Fahrens ohne Führerschein, der zuvor dem Alkohol zum Opfer fiel. „Das ist das letzte Mal für den Schulze,“ sagt Schulze im karierten Hemd, Goldkettchen am Arm, der von sich am liebsten in der dritten Person spricht, „irgendwann muss ja Schluss sein.“ Sehr christlich sei der Schulze. „Ich bete jede Nacht, dass ich morgen noch erlebe.“ Sei doch so schön, das Leben.

Auch wenn er davon fast zwanzig Jahre hinter Gittern verbrachte. „Was doch nicht immer schön war.“ Probleme im Sinne von Unterdrückung hatte er zwar nie, war ja eine stattliche Erscheinung, noch dazu lange Jahre im Schrottgeschäft tätig, das ein ziemlich rustikales gewesen sei.

Dennoch ist er froh, seine sechste Strafe nun hier absitzen zu dürfen. Wo es Vollwertküche auf Tellern gibt und nicht Geschmackloses in Blechschüsseln. Wo alles sauber ist, weil „wir darauf achten, dass wir es am Ende ein bisschen schön haben.“ Um den Garten hier beispielsweise kümmern sich zwei Kollegen von ihm. Schulze erfreut sich jeden Tag daran. Auch wenn er nach der Arbeit lieber Skat spielt. Oder Briefe schreibt.

„Das ist schon herrlich übersichtlich hier, das Leben,“ sagt Schulze. „Ich glaube, für manche ist es hier drinnen besser als draußen. Draußen ist doch alles offen. Und nur junge, schöne und fitte.“

Trotzdem freut er sich auf die baldige Entlassung. Denn eines vor allem fehlt ihm hier: Zuneigung. „Das war für den Schulze bei jedem Aufenthalt das Härteste.“ Frauen seien doch der eigentliche Sinn des Lebens. Seine vierte verließ ihn kurz vor dem letzten Haftantritt. Aber er habe da was in Aussicht. Deswegen die Briefe - „bei Firma Knie weiß man nie!“ Die besagte habe ein gutes Fahrgestell. Und einen Führerschein. „Damit sich der Schulze wohl fühlt und damit er nicht Gefahr läuft, noch mal verknackt zu werden.“ Dann nämlich, vermutet er, käme er hier wahrscheinlich nicht mehr lebend raus.