Schicht im Schacht

Tausendzweihundert Meter unter Bottrop-Kirchhellen ist die Welt in Ordnung an diesem grauen Montagmorgen. Hat alles seinen Platz. Jede Maschine. Jeder Kumpel. Frank Jablonek, 44 Jahre alt, Markennumer 7312, Schalke-Fan („Fußball fürs Herz gibt’s nur auf Schalke“), hat seinen ganz vorne. An der Front. Vier Kilometer entfernt vom Aufzugsschacht. Vor Kohle. Wo es laut ist und dreckig. Wo er mit vier anderen Kumpeln den Walzenschrämlader bedient, ein archaisches Ding von Maschine, zwanzig Tonnen schwer, mit riesigen Meißeln, die die Kohle aus dem Flöz kratzen. Jablonek ist ein Kerl mit breitem Kreuz, Händen, mit denen er zur Not die Kohle auch selbst rausholen könnte, einer Stimme, deren Dröhnen Druckwellen auslöst und einer Lunge, die „ziemlich am Arsch“ ist, nicht wegen zwanzig Jahren unter Tage, „Staublungen gibt es schon lange keine mehr“, sondern wegen zwei Schachteln HB jeden Tag über Tage. So dass es die letzten beiden Male schon knapp war für ihn beim Betriebsarzt. Nur wer dort den jährlichen Belastungstest besteht, darf weiter unter Tage. „Aber die zwei Mal, wo ich noch bestehen muss, werd ich es hoffentlich noch schaffen.“ Danach dann ist es vorbei.

Denn am 31.12.2018 wird auch diese Zeche geschlossen, Prosper-Haniel, Bottrop. Gelegen am nordwestlichen Rand des Ruhrgebietes. Das letzte aktive Steinkohlebergwerk zwischen Rhein und Ruhr. Die letzten zweitausendsechshundert Kumpel. Voraussichtliche Förderleistung 2016: drei Millionen Tonnen. Noch knapp zwei Jahre. Dann wird auch Prosper-Haniel verfüllt und abgeworfen, wie man es hier Kohlenpott nur noch statt im Bergbaumuseum in Bochum.

„Dat is schon Wahnsinn, dass dat jetz bald tatsächlich alles zu Ende is.“ Sagt Holger Stellmacher, 48 Jahre alt, Dortmund-Fan („wenn Du schönen Fußball sehen willst, gehst du nich auf Schalke“), Markennummer 7410, tausendzweihundert Meter über Jablonek, im Weißbereich der Kantine. Jenem Bereich für die, die erst noch einfahren. Stellmacher, eins neunzig groß, ein gut aussehender Mann mit schmalem Gesicht, noch in Jeans und schwarzem Pullover, schüttelt mit dem Kopf seinem Satz hinterher, hält die Hand vor den Mund und sagt: „Hm“. Jeder mache zwar noch seine Arbeit. Mit Herzblut und zu hundert Prozent mit dem Kopf dabei, weil alles andere da unten nicht in Frage komme, wo jeder auf jeden angewiesen ist. „Aber den Gedanken ans Ende kann man natürlich nicht mehr verdrängen. So kurz davor. Dat is nich schön.“ Würde einem ja auch jede Woche noch bewusster. Wenn wieder ein paar Dutzend Kumpel ausscheiden. Wieder ein Band stillgelegt wird. Wieder ein paar Maschinen von unten nach oben verbracht werden. Zur Verschrottung. Wieder das Thema hochkommt unter den Kumpels, wie man den 31.12.2018 begehen will.

„Ich war mein ganzes Leben da unten,“ sagt Stellmacher. Genau wie sein Großvater. Sein Vater. Seine beiden älteren Brüder. „Alle auf der Pütt.“ Ruhrdeutsch für Zeche. Die Brüder sind Ende der Neunziger ausgeschieden. Gingen in die freie Wirtschaft. Weil sie nach den Schließungen ihrer Zechen nicht mehr übernommen worden von anderen. Holger Stellmacher wurde übernommen. Weil er noch jünger war. Drei Mal insgesamt wurde er verlegt. Seine erste Zeche war das Bergwerk „Ost“ in Hamm, seiner Heimatstadt. Kaum fünfhundert Meter waren es da hin. Seine letzte ist nun seit vier Jahren Prosper-Haniel. 72 Kilometer einfach. Einmal von Ost nach West über die A2 quer durchs Ruhrgebiet.

Das Ruhrgebiet. Das waren mal fast 150 Zechen. Bochum, Herne, Essen, Dortmund, Gelsenkirchen, Oberhausen, Hamm, Kamp-Lintfort. Waren zu Höchstzeiten mal fast 600'000 Kumpel Ende der Fünfziger. Die 150 Millionen Tonnen Kohle zu Tage förderten. Treibstoff für das Wirtschaftwunder. Das waren immer wieder auch Tote bei Grubenunglücken. Waren unzählige Bergbausiedlungen. Baugleiche Häuschen, eins neben dem anderen, geschwärzte Fassaden schon nach kurzer Zeit, vor dem Haus ein Bänkchen, dahinter ein Gärtchen. Das waren mal Hunderte Bergmannsvereine. Es war mal: schmutzig, aber echt. Tief im Westen, wo die Sonne verstaubte. Das waren mal Trinkhallen an jeder Ecke. Das war ab Mitte der Sechziger der beginnende Niedergang der deutschen Kohle. Weil sie zu teuer zu fördern war. Zu viele Subventionen verschlang. Das waren immer laute und wütende Proteste ab den Siebzigern. Das waren 1985 noch 138'000 Kumpel, 1995 73'000 und 2011 weniger als 20'000.

Das Ruhrgebiet. Das ist noch ein letztes Bergwerk. Keine Bergmannsvereine mehr. Nur noch Ehemaligentreffen. Ein paar Kumpel noch. Kaum eine Trinkhalle mehr. Unzählige Zechenstraßen und Glückaufstraßen. Noch nicht umbenannt. Die Route der Industriekultur quer durch den Pott, vorbei an all den ehemaligen Zechen. Viel Erinnerung. Still stehende Fördertürme als Denkmäler. Auf ehemaligen Zechengeländen Loftsiedlungen und Kreativbüros. Struktur gewandelt. Dienstleistung statt Schwerindustrie. Saubere Luft. Saubere Arbeitsplätze. Ob besser oder nicht. Ein anderes Ruhrgebiet. Weil sich die Zeiten geändert haben. Weil nichts für immer bleibt, wie es war.

Es ist kurz vor elf am Vormittag. Jabloneks Schicht endet bald. Unten wartet er mit den anderen auf den nächsten Aufzug nach oben. Man ist gut drauf. Schon in Vorfreude auf Dusche und frische Klamotten. „So schön dat hier unten auch is mit den ganzen Idioten,“ sagt er und lacht, „aber oben anzukommen, is auch immer wieder gut.“ Stellmachers Schicht beginnt bald. Über lange Gänge aus der Wirtschaftswunderzeit geht es in die Umkleiden. In den Berg geht man mit nichts, was man über Tage trägt. Die Schuhe, hoch, bis über den Knöchel, mit Stahlkappen und durchtrittssicheren Sohlen. Schienbeinschoner, Schutzbrille Handschuhe, Halstuch, Helm. Feuerfeste Unterwäsche, dicke Socken. Am Ende noch der breite Gürtel, an den die acht Kilo schwere Batterie gehängt wird für die Grubenlampe und, ebenso schwer, den CO2-Filter für den Notfall. Dann geht es hinüber. In die Vorhalle. Jenem Ort, an dem man auf den Aufzug wartet. Währenddessen den ersten Schnupftabak der Schicht zieht. Fast alle haben ein Döschen davon dabei. Als Zigarettenersatz. Und auch, um unter Tage die Nase freizubekommen vom Kohlenstaub. Der Aufzug kommt. Die Fahrt nach unten beginnt. Schnell. Vier Meter pro Sekunde. „Einen Frischling,“ sagt Stellmacher und lacht, „hat man immer daran erkannt, dass er sofort krampfhaft versucht hat, sich irgendwo am Gitter festzuhalten.“ Überhaupt habe die erste Grubenfahrt einen hohen Stellenwert. „Wenn es dat erste Mal runtergeht, dann weiß man, das will man. Oder es war dat letzte Mal.“ Weil es eben eine ganz eigene Welt sei. „Dat ist schon was anderes, als wenn man acht Stunden irgendwo im Büro sitzt.“ Er wolle die Arbeit dort nicht schlecht reden. Aber dieses Gefühl von Zusammenhalt. Das, glaubt er, kriege man dort nicht so sehr wie man es hier unten kriegt. In einem Schacht mit einem Kilometer Berg über dem Kopf. Verbunden mit da oben nur über einen Aufzug. Dazu die noch immer nicht einfachen Bedingungen. Laut, dreckig, heiß. Das schweiße schon alles zusammen. Auch wenn man sich gerne mal ein Arschloch nenne,  „hab ich hier unten in dreißig Jahren kein einziges Arschloch getroffen.“ Auch Nationalitäten spielten keine Rolle unter Tage. So dass der Bergbau seit je auch ein großes Integrationsprogramm gewesen sei. Erst kamen die Polen. Dann die Türken und Italiener. Unter Tage waren es keine Ausländer. Nur Kumpel. Der Begriff komme ja auch nicht von ungefähr. „Okay“, sagt Stellmacher und lacht, „von den Italienern seien viele wieder nach über Tage.“ Die hätten dann doch lieber Pizzerien aufgemacht.

Ein Klingeln ertönt. Der Aufzug kommt unsanft zum Stehen. Der Steiger zieht das Gitter zur Seite. Ruft: Schacht zehn, zweite Sohle. Stellmacher und seine Kollegen steigen aus. Jablonek und seine Mannen steigen ein. Man grüßt sich mit „Auf“. Bergmänner gehen wirtschaftlich um mit Worten. Knapp dreißig Grad herrschen im Inneren der Erde. Dazu weht ein starker Wind durch die Stollen und Schächte. Wetter nennt man es hier unten.

Unweit des Aufzugs steigt Stellmacher mit einigen Kollegen in die Dieselkatze. Eine Schwebebahn im Kleinformat. Die Waggons, immer nur mit einem Sitzplatz, hängen von einem stählernen Schienenstrang an der Stollendecke herunter. Mit neun Stundenkilometern lässt man sich damit zum nächsten Flöz fahren. „Dat is bei Besuchern immer der Hit,“ sagt Stellmacher, der, weil er gut reden kann, neben seiner Arbeit hier unten von der RAG Deutsche Steinkohle AG, dem Betreiberkonzern von Prosper-Haniel, vor zwei Jahren dazu berufen wurde, Besuchern die Arbeit im Berg zu zeigen. So lange man noch aktiv ist. Vor allem Schulklassen kommen herunter. Aus dem Umland. Aus Dortmund, Gelsenkirchen oder auch Essen. Städten, die mal Kohle geatmet haben. Trotzdem wären die meisten überrascht, dass es hier noch so etwas gäbe. Da sei ja krass, hört er oft. „Als ich noch n Kind war, war das ganz normal.“ Schon schade, sagt er, wie schnell diese Tradition vergessen wurde. Wobei ja auch seine eigenen Kinder, zwei Töchter und ein Sohn, 14, 18 und 21 Jahre alt, nichts mehr zu tun hätten mit dem Bergbau.

Lange wird auch er nicht mehr zu tun haben damit. Eigentlich müsste, Stellmacher sagt dürfte, er nur noch bis Jahresende arbeiten. Denn Anfang Dezember wird er 49. Jenem Alter, mit dem man im Bergbau in den Ruhestand versetzt wird. Er hofft, dass er eine Ausnahmeregelung mit der RAG aushandeln kann, um bis zum Ende dabei sein zu können.

Wie viele andere von Prosper, die schon älter sind und nicht mehr in die freie Wirtschaft wechseln werden nach der Schließung, besucht Stellmacher Anpassungsseminare. Wo man lernt, zwei Stunden jeden Mittwoch, wie man mit der freien Zeit über Tage umgehen kann und was einen erwartet. Um gewappnet zu sein. Nicht ins Bergfreie zu fallen. Wie man es im Bergbau nennt, wenn jemand danach nicht mehr so recht den Anschluss findet ans Leben. Auch Stellmacher und Jablonek kennen viele, die es nicht schafften. Scheidung, Alkohol, Spielsucht. Stellmacher sieht da für sich eigentlich keine Probleme. Irgendwas Ehrenamtliches will er auf jeden Fall machen. Und öfter ins Sauerland. In seinen Wohnwagen. Den Garten endlich mal wieder auf Vordermann bringen. Und möglichst wenig seiner Frau und den beiden Töchtern, die noch zuhause wohnen, auf die Nerven fallen.

Trotzdem: dass es nun zu Ende geht, sei im Grunde völliger Blödsinn. Unter dem Ruhrgebiet sei noch so viele Kohle. Und Deutschland habe den mit Abstand sichersten Bergbau der Welt. Während in China, dem mit Abstand größten Kohleförderer der Welt, jedes Jahr Tausende sterben würden. „Na ja,“ sagt er, „war ja nich so, dat wir nich lange gekämpft hätten.“ Wo war er nicht überall demonstrieren mit seinen Kollegen. Wie oft sie nicht in Düsseldorf gewesen wären. Bei der Landesregierung. „Aber irgendwann muss man wissen, wann der Kampf vorbei is.“ Spätestens seit dem 20. Dezember 2007 wussten sie es. Als die Bundesregierung ein Gesetz erließ, das man ausgerechnet Steinkohlefinanzierungsgesetz nannte. Unter Artikel 1, Absatz 1 lautet es aber: „Die subventionierte Förderung der Steinkohle in Deutschland wird zum Ende des Jahres 2018 beendet.“ Zu dem dann auch schließlich die bergbaunahe SPD-Landesregierung von Nordrhein-Westfalen zugestimmt hatte. Da habe man gewusst: „Jetzt ist es vorbei.“

Die Planungen für den 31.12.2018 laufen auf Hochtouren. „Dat soll ja schon ne Hausnummer werden.“ Immerhin werde da ja der deutsche Steinkohlebergbau zu Grabe getragen. Vielleicht kommt sogar Angela Merkel. „Oder n andrer Kanzler.“ Wobei das nicht so wichtig wäre. Viel wichtiger, dass alle Kumpel nochmal kämen. Auch die, die bis dahin noch ausscheiden.

„Ich könnt heulen, wenn ich daran denke,“ sagt Stellmacher leise.