Russlanddeutsche

Alles war in dieser einen Tasche. Die Träume, das Geld, die Kleidung; alles, was sie hatten, als sie dort gingen und hier ankamen.

Dreizehn Jahre ist das her, November 1995. Sie kamen an in Friedland, niedersächsische Kleinstadt, der Ort, an dem Deutschland seine verlorenen Söhne und Töchter zu empfangen pflegt. Im zentralen Aufnahmelager für Spätaussiedler.

Der Anfang schmeckte süß. Kaum angekommen verließen Olga und Vladimir, ihre einjährige Tochter Christina auf dem Arm, die Enge des Aufnahmelagers, gingen in die Stadt und kauften ein bei „Spar“. 'Schakalade' - Dutzende Tafeln davon. Und hemmungslos alles andere, an dem es ihnen in Kasachstan mangelte. Das kleine Haus, dass sie nahe der kasachischen Hauptstadt Astana besaßen, verwandelte sich zunächst in tausend Dollar, dann in D-Mark und ein Teil davon schließlich in all die schönen Dinge, die es in deutschen Supermärkten zu erstehen gab. Man prasste ein bisschen, schließlich war man nun angekommen, war aus Traum Wirklichkeit geworden: Deutschland. Die Heimat. Endlich.

Hart schlugen sie darin auf. „Ich habe elf Jahre gewartet auf das bessere Leben hier. Aber es wird nur schlimmer,“ sagt Olga Funk. Kerzengerade sitzt sie am Küchentisch, eine Frau von 31 Jahren mit Melancholie in den grünen Augen, zum Pferdeschwanz gezähmten blonden Haaren und ungezähmter Sehnsucht nach Hause. In Kasachstan Ingenieurstudentin, hier Putzfrau, der Rücken meist zum Boden gebeugt und mit ihm ihr Stolz. Die ersten zwei Jahre nach der Ankunft frischte sie ihr  Deutsch auf, bewarb sich viele Male, versuchte, in einem Job zu landen, in dem sie auch ihre Mathematikkenntnisse anwenden könnte. Am Ende aber landete sie doch immer wieder kniend auf deutschem Linoleum. Und da nun viele der früheren Lehrerinnen, Polizistinnen und Ingenieurinnen aus Russland, Kasachstan und der Ukraine mit ihr die Böden putzten, setzte ihr frisches Deutsch schnell wieder  Rost an. Untereinander spricht man nicht in einer fremden Sprache.

Olga gegenüber sitzt Vladimir, ihr Mann seit 13 Jahren. Und spricht aus, was immer mehr Russlanddeutsche hierzulande vorhaben: „Wir wollen zurückgehen. Wir sehen hier keine Zukunft mehr für uns. Und noch ist Zeit. Meine Frau und ich sind ja erst Anfang Dreißig.“ Als Kraftfahrer tagein, tagaus den Asphalt vor sich und hinter sich Kollegen, die über ihn tuscheln, weil er eine Wohnung gekauft hat und sie sich fragen, womit. Vielleicht mit den satten Zuschüssen, die die 'Russen' noch immer bekommen vom deutschen Staat –  wenn auch nur in ihrer Vorstellung. Dieses Misstrauen hat Vladimir mürbe gemacht. „Wir bleiben hier immer Ausländer,“ sagt er und fügt hinzu: „Auch wenn ich ja eigentlich Deutscher bin.“ Er schickt dem Satz ein Lachen hinterher, aber seine Augen lachen nicht mit.

Manchmal noch plagen ihn Zweifel an der Rückkehr: Wieder alles aufgeben? Wieder von Null anfangen, so wie damals vor elf Jahren? Und: wohnen  nicht mittlerweile auch alle seine Verwandten hier? Die würden ihm drüben dann fehlen, schon wieder. Andererseits: Kasachstan blüht gerade auf, auch Russland oder Kirgisien. Überall wächst die Wirtschaft rasant und mit ihr die Chance auf Arbeit - gut bezahlte obendrein. Und das Getuschel würde auch verstummen.

„Es sind Tausende, die zurückwollen,“ sagt Zafar Sharajabov, ein ruhiger, kleiner Mann, der  das harte Deutsch der Spätaussiedler mit sanfter Stimme spricht. „Diese Menschen leiden hier,“ sagt er und es klingt wie: läden hier. Sharajabov, selbst vor zehn Jahren aus Kirgisien nach Deutschland gekommen, ist Mitarbeiter der Wohlfahrtsorganisation „Heimatgarten“. Ursprünglich gegründet, um Kriegsflüchtlingen zu helfen, in ihre Heimatländer zurückzukehren, wenden sich seit etwa zwei Jahren immer mehr Spätaussiedler an  den Verein. In Bielefeld hat man deswegen eine spezielle Anlaufstelle eingerichtet, die sich nun ausschließlich um die Belange der rückkehrwilligen Russlanddeutschen kümmert. Deren Zahl stetig ansteigt.

„Viele haben über lange Jahre ausgeharrt und gehofft, nächstes Jahr würde es besser,“ sagt Sharajabov. „Aber bei vielen blieben die Hoffnungen unerfüllt.“ Er nestelt in den Unterlagen auf seinem Schreibtisch, zieht dann ein Blatt heraus und reicht es dem Besucher. Darauf ein Schaubild, das überschrieben ist mit: „Hauptgründe für Rückkehr der Aussiedler.“ Rechts und links unterteilt ist die Grafik in „ökonomisch bedingt“ und „mental bedingt“. Sharajabov kreist mit  der flachen Hand über das Blatt und sagt: „Die Probleme gehen eigentlich ineinander über.“ Tatsächlich sind die Gründe vielfältig: Schlechte Sprachkenntnisse, Isolation von der deutschen Gesellschaft. Arbeitslosigkeit oder Arbeit in einem Beruf, der den Verlust sozialer Anerkennung bedeutet. Wenn ehemalige Staatsanwälte beispielsweise sich wegen ihres schlechten Deutsches hier plötzlich am Fließband wieder finden.  All das  fügt sich zusammen zu einem Gefühl der Nutzlosigkeit, dass manche in die Verzweiflung treibt und als letzte Lösung nur die Rückkehr erscheinen lässt. Sharajabovs Zeigefinger schnellt auf das Blatt: „Dieser Punkt ist auch sehr wichtig.“ 'Falsche Hoffnungen und Vorstellungen vor der Einreise' steht da.

Oft nämlich möchte keiner von denen, die schon hier leben, bei den Besuchen in der einstigen Heimat zugeben, dass es auch Probleme gibt im gelobten Land. Und so hielt sich dort lange die Mär von einem Deutschland, „in dem  die Straßen so sauber sind wie mit Shampoo gewaschen.“ Die Illusion von einem Land, dass frei ist von Kriminalität und voll von Hilfsbereitschaft. Bei vielen aber war es nach der Ankunft dann so, als wenn man Touristen fünf Sterne mit Meerblick auf Mallorca versprochen hat und sie vor Ort einen Betonbunker vorfinden mit Sicht auf eine Baustelle. Mit dem Unterschied nur, dass die Touristen zurückkehren können ins eigene Heim. Die drei Millionen Spätaussiedler aber, die nach dem Fall der Mauer nach Deutschland  strömten, hatten meist alles aufgegeben zu Hause, wo die Wirren der  postsowjetischen Ära herrschten.

Nun aber wird der Weg zurück immer verlockender. Denn allmählich lichtet sich das Chaos nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Entwickeln sich einigermaßen stabile Verhältnisse, in denen Korruption zurückgedrängt wird und die Wirtschaft zum Beispiel in Kasachstan im letzten Jahr um 15 Prozent gewachsen ist. So sehr, dass der Präsident der zentralasiatischen Republik, Nursultan Nasabejew, Programme aufzulegen gedenkt, die junge Arbeitskräfte aus dem Ausland mit Vergünstigungen anlocken soll. Vor allem aus Deutschland, wo die meisten 'Kasachen' außerhalb des Landes leben.  Solche mit „deutschen Tugenden und russischer Seele“, wie Zafar Sharajabov sie mit einem Lächeln nennt. „Die diszipliniert sind, aber sich und die Sorgen auch mal vergessen können.“  

Das jedoch fiel Vladimir und Olga Funk immer schwerer in den letzten Jahren. Richtig unbekümmert sind sie eigentlich nur noch in den vier Wochen im Sommer, wenn sie mit ihren beiden Kindern Urlaub machen in der alten Heimat und von der neuen.

Vor fünf Jahren haben sie auf Kredit diese Wohnung gekauft. Haben noch einmal ein Zeichen setzen wollen dafür, dass sie angekommen sind in Deutschland. Drei Zimmer groß ist dieses Zeichen, gelegen in einem gelb-braunen Fünfgeschosser aus den Sechzigern. Am Rande der schwäbischen 84'000-Einwohner-Stadt Göppingen. Laminatboden, Couchgarnitur, ein kleines Reich mit Bildern an den Wänden von der großen Verwandtschaft, von Olgas verstorbenem Bruder, von ihren beiden Kindern Christina und Daniel. Auf den Küchenregalen stehen Lebensmittel mit  kyrillischer Aufschrift. Gekauft nicht mehr bei 'Spar', sondern bei  'Tanja', einem kleinen Laden in der Innenstadt, auf dessen Fensterfront Matrjoschkas prangen. Die Hälfte ihrer Nachbarn im Haus sind Spätaussiedler. Sie heißen Jenuwein, Weselow und Kowatz. Sie kommen aus der Ukraine, aus Kirgisien, aus Russland. Sie alle sind Deutsche wie die Funks - in ihrem Pass.

Der war für viele einmal die wertvollste aller Eintrittskarten zum Glück und ist heute nur noch ein schlichtes Stück Pappe, das sie lieber jetzt als nachher eintauschen möchten gegen die Papiere ihrer Herkunftsländer. Da 'Heimatgarten' in engem Kontakt steht zu den jeweiligen Botschaften dieser Staaten, kennt Zafar Sharajabov konkrete Zahlen. Allein Kasachstan habe in den vergangenen beiden Jahren über zweitausend deutschen Rückkehrern eine neue Staatsbürgerschaft erteilt - die doppelte gibt es dort nicht.

Vielleicht haben einige von diesen Rückkehrern auch jenes Fremdeln ihnen gegenüber zu spüren bekommen, das oft wie eine unsichtbare Mauer zwischen den neuen und den alten Deutschen steht. Nicht etwa die große, offene Ablehnung, aber viele kleine Gesten des Unterschieds.

Als sie ihre neue Wohnung bezogen, gaben die Funks eine kleine Einstandsparty und luden alle Nachbarn dazu ein. Natürlich auch die Deutschen ohne russischen Akzent. Alle kamen. Ausgelassen war das Fest, es gab Wodka, Wein und Pelemeni, russische Maultaschen. Man verabschiedete sich, höflich zwar in für russische Verhältnisse unüblicher körperlicher Distanz - aber doch mit warmen Worten. Fortan grüßte man sich freundlich und freundlich auch verweigerten  sich die Nachbarn weiteren Einladungen der Funks. Wenige Wochen später klingelte es an der Tür und davor standen zwei Polizisten. Mit einer Anzeige in der Hand, wegen andauernder Ruhestörung. Ständig brülle ein Kind und die Musik sei immer so laut, dass man denke, hier würde dauernd eine Party gefeiert, schon mittags um zwei. Vielleicht ja auch wegen dem Wodka, man höre das ja immer wieder von den Russen. Mittags um zwei aber kam Olga immer heim vom Putzen und hörte dann für eine Stunde lang russische  Schlager oder Folklore. Auch heute noch legt sie um diese Zeit die Musik ein, tanzt dabei mit dem fünfjährigen Daniel, ihrem Sohn. Bei gedämpfter Lautstärke nun.

Vladimir stellt Tschebureki auf den Tisch, eine  kasachische Spezialität. Er erklärt: „Taschen aus Hefeteig. Sind Zwiebeln und Hackfleisch drin. Wird noch mit Fett.. wie sagt man?“ 'Frittiert?' „Ja, frittiert.“ „Prraabieren Sie!“, sagt er mit den lang gezogenen, vertauschten Vokalen und dem gerollten „r“ seines russischen Akzents. „Schmeckt gut!“ Er lacht, klopft sich auf den Bauch und nickt dazu mit dem Kopf: „Aber macht viele Kilo.“

„Sehr geehrter Herr Sharajabov,“ beginnt  der Brief an 'Heimatgarten', den die Funks   vor Kurzem abschickten. Mit vielen Grüßen endet er und dazwischen haben die Funks Hilfe erbeten. Bei den Formalitäten. Wie kriegt man die mit Hypotheken belastete Wohnung los? Wie die Möbel? Wie kommt man an kasachische Papiere? Wie kann man den deutschen Pass zurückgeben? Gibt es Unterstützung bei den Reisekosten?

Wenn sie in Kasachstan ankommen, werden sie nicht viel mehr haben als damals in Friedland. Nur ein winziges Haus neben Olgas Eltern. Aber ein Land, das ihnen vertraut ist.