Rinderflüsterer

Schon nachts vor jenen Tagen schläft Maier schlecht. Wacht er frühmorgens auf, möchte er liegen bleiben. Er hasst diese Tage, an denen er töten muss. Vielleicht fände er einen Grund, es noch mal auf morgen zu verschieben. Aber er weiß es besser. Hat es selbst so gewollt. Sogar gekämpft dafür. Also muss er nun raus. Es ist sechs Uhr, im Osten, hinter der Burg Hohenzollern, in Stein gehauenem Trotz, auf den hinüber Maier von seinem Hof blickt, geht die Sonne auf und bringt den Tag nach Ostdorf. Besser das Wetter wäre trübe. Seinem Inneren entsprechend.

Maier zieht sich an, dunkle Kleidung heute, „der Pietät wegen,“ steigt in die Gummistiefel, greift nach dem Gewehr, Kaliber 9 mm, schraubt den Schalldämpfer darauf, „man soll so wenig hören wie möglich.“

Um halb sieben vibriert einsam ein Traktor durch Ostdorf, Landkreis Balingen, sechzehnhundert Seelen, bei denen sich der Ortsname zu „Oschdorf“ weitet, gebettet in sanft gewelltes Land, auf halber Strecke zwischen Stuttgart und Bodensee, drei Gaststätten, eine Tankstelle, ein Tante-Emma-Laden, eine Kirche und ein Rebell, Ernst-Hermann Maier, im siebenundsechzigsten Jahr  seines Lebens und noch immer ungezähmt wie seine Rinder, auf dem Weg nun zur Weide zwei Kilometer außerhalb Ostdorfs, Annika zu töten, drei Jahre alt, 450 Kilo schwer, kein Kalb mehr, das eigene schon erwachsen und nicht trächtig mit einem neuen. Schlachtreif nach Maiers ethischem Kodex.

„Am liebsten würde ich sie ja alle leben lassen, bis sie ganz natürlich das Zeitliche segnen,“ spricht  Maier, leise, denn er nähert sich schon seiner Herde, in die er jetzt keine Unruhe bringen möchte. 240 Tiere,  30 Bullen darunter, Kühe, Kälber, jedes trägt einen Namen, Iris, Walter, Resi, Annemann, und „die Hörner nicht wie gedemütigtes Stallvieh nach unten,“ wie Maier sagt, „sondern wieder stolz nach oben.“ „Uria-Rinder“ taufte er seinen Stolz. Nach dem Auerochsen „Ur“, Vorfahr aller Hausrinder, der bis vor vierhundert Jahren noch durch Europas Wälder und Wildnis zog. Weil Maiers „Viehcher“ zumindest eine Ahnung von dieser Freiheit bekommen. Anders als die fast 98 Prozent der 1,5 Milliarden Rinder weltweit, die ausschließlich im Stall gehalten werden und blauen Himmel oder Tageslicht nur durch kleine Fenster sehen und auf dem Weg zum Schlachthof. Deren Leben in einem Modus stattfindet, der nur unterscheidet zwischen Stehen und Liegen.

Auch Wissenschaftler kommen mittlerweile nach Ostdorf, das Verhalten von Maiers Herde zu studieren, die es so in ganz Europa kein zweites Mal gibt. Frei ihr Leben lang auf siebzig Hektar großer Weide, Tag und Nacht, im Sommer wie im Winter, ohne Hormone, mit Antibiotika nur im Notfall und Maiers Zuwendung jeden Tag. Bis er ihr Leben beendet. Denn würde er nicht jeden Monat zweimal hierher kommen mit einem Gewehr in der Hand, dann wüchse die Herde unaufhaltsam und schließlich will er auch Geld verdienen mit ihrem Fleisch, „dem besten, das ich kenne.“ Denn er ist ja noch Landwirt, nicht nur Tierschützer. Und die Frage, ob der Mensch eingreifen darf in den natürlichen Kreislauf und anderes Leben töten, hat er sich entweder nie gestellt oder für sich selbst bejaht.

Lange kämpfte Maier darum, den Tod seiner Tiere in die eigene Hand zu nehmen. Über 15 Jahre hinweg hatten sich die Beamten in den Behörden geweigert, „diese linken Bazillen,“ ihm das Recht einzuräumen, seine Tiere dort zu töten, wo sie lebten. Veterinäramt in Balingen,  Ordnungsamt, Landwirtschaftsamt, alle verwiesen auf Gesetze. Zum Schlachthof im sechs Kilometer entfernten Balingen sollte er die Rinder bringen wie alle anderen Viehhalter auch. „Schlachthofzwang“ nennen sie ihre Verordnung. Was Maier nicht akzeptieren will, weil er jeden Tiertransport als „unmenschlich“ empfindet. Bis ins Jahr 2001 klagt er sich durch die Instanzen, weil ihm, wie er sagt, ein Fluchtgen fehlt. „Setzt man mich unter Druck, laufe ich zur Höchstform auf.“ Am Ende bekommt er Recht.

Deswegen stirbt Annika heute dort, wo sie lebte. Maier tritt vorsichtig durch die Herde, erkennt sie nach kurzem Suchen. Ein kleiner brauner Fleck am Hals verrät sie. Nun hat er sie vor sich, einen Meter nur entfernt. Liegend und schlafend. So ist es Maier am liebsten. „Dann ahnt sie nichts von ihrem Ende.“ Nicht wie in den Schlachthöfen der Republik, zu denen Jahr für Jahr 360 Millionen Nutztiere quer durch Europa gekarrt werden, manchmal für Stunden, manchmal  für Tage, um dort in engen Gittergassen der Schlachtung entgegen zu irren, wo im Akkord das Bolzenschussgerät auf nass geschwitzte Tiere niederfährt.

In schrägem Winkel legt Maier an auf Annikas massigen Schädel, kontrolliert noch mal den Schalldämpfer, weil niemand in der Herde davon Notiz nehmen soll und auch weil er keine Lust hat darauf, „dass es im Dorf wieder heißt, der Maier hat ein Tier verschossen.“ Er drückt ab. Blut rinnt aus dem kleinen Loch im Kopf. Kein Tag zur Freude wird mehr aus diesem, weil es Maier immer ein wenig ist, als ob er ein Familienmitglied verliert.

Wenn aber Annika zerlegt ist, die Klauen abgeschnitten, die Brust aufgesägt, die Luftröhre ausgelöst und auch der After und sie am Ende zu Uria-Rumpsteak wird, zu Uria-Filet oder Uria-Schnitzel, für die seine Kunden viel Geld bezahlen, dann wird ihn wieder das Gefühl überkommen, es richtig gemacht zu haben. Weil er damit verdient, hinter ein würdevolles Leben ein möglichst würdevolles Ende zu setzen. Weil er damit ein Signal senden möchte, dass es auch anders geht und Nutztiere nicht allein reine Produktionsfaktoren sind. „Nicht nur Sklaven der Menschen für ihren Hunger nach Fleisch.“ Sagt Maier, der nur einmal in der Woche Fleisch isst und nur jenes seiner eigenen Tiere. Im ganzen Land von gewisser Prominenz ist Maier mittlerweile, seit er ein Buch schrieb in mehrtausendfacher Auflage: „Der Rinderflüsterer.“ Ist seitdem trotz seines erdschweren schwäbischen Akzents gefragter Gast an Hochschulen, bei politischen Veranstaltungen und sogar in Talkshows.

An einem heißen Nachmittag Ende August, zwei Tage nach der Schlachtung, sitzt Maier, in den Jahren schlank und drahtig geblieben, die Augen schmal und lauernd, an dunklem Tisch in einem Raum, der vor Jahrzehnten noch Kuhstall des Hofes war, in dem die Tiere lebten wie alle anderen auch. Stehen oder liegen. Jetzt ist es das Besprechungszimmer des Vereins, den Maier 1995 gründete, seinem Wirken Öffentlichkeit und Anhänger zu verschaffen, „Uria e.V. – für eine artgerechte Nutztierhaltung.“ An einer Wand hängt, neben dem riesigen Schädel des ehemaligen Leitbullen Hermann, eines 1,1 Tonnen schweren und alt gewordenen Riesen, das Motto des Vereins, Mahatma Gandhi entliehen: „Die Größe und den moralischen Fortschritt einer Nation kann man daran ermessen, wie sie die Tiere behandelt.“ Kleine Worte sind nicht Maiers Sache. Weder wählt er sie für das, was er tut noch für die Beschreibung  seiner selbst ernannten Gegner. "Kein Stress, keine Angst, keine Panik,“ sagt Maier, „wir sind der Schlachthof ohne Schrei.“ Besagte Veterinäre, die noch immer den Schlachthofzwang propagieren, sind kleine Doktor Mengeles, die Spaß daran haben, dass Tiere gequält würden. Sagt Maier, der altert, sobald er die Schirmmütze mit dem Uria-Schriftzug abnimmt, weil sich darunter nur noch ein grauer Haarkranz verbirgt. Fast nie aber sieht man ihn ohne sie, so als ob er schon verwachsen wäre mit seinem Projekt, das ihn unter Spannung hält und das Alter abfedert.

Als er 1965, jung und dunkelhaarig, den Hof des Vaters übernimmt, weil der ältere Bruder sich für eine Anstellung bei der örtlichen Sparkasse entscheidet, beginnt Maier langsam, sein Tun den Tieren zu widmen. Obwohl er im selben Jahr, da ist er 23, erst einmal heiratet. Elfriede, seine Frau bis heute. „So ein schönes Mädle und ich so verknallt, das hat halt sein müssen.“ Zu jung für den Vater, der dadurch zu viel Ablenkung von der Arbeit fürchtet. Er irrt. Maiers Leidenschaft reicht für mehr als nur die frische Liebe. Schon in der Landwirtschaftsschule in Balingen, die er zwei Jahre zuvor als einer der besten abschließt, ist er schwer zu bremsen. Dort lehrt man, die Produktivität der Viehhaltung zu steigern, noch mehr Tiere auf weniger Fläche zu halten, die man schneller zur Schlachtreife bringen solle, wolle man überleben in der modernen Landwirtschaft. „Tiere sollten zu Großvieheinheiten werden, nicht anders als Schrauben in einer Schraubenfabrik,“ sagt Maier und lässt die Hand, die bei ihm Pranke ist, auf den Tisch fahren. Im Unterricht widerspricht er  dem Lehrer mit seiner lauten, oft schneidenden Stimme. Schimpft ihn einen Ignoranten und kassiert dafür einen Verweis. Jahre später revanchierte sich der Lehrer ein zweites Mal. Als Leiter des Landwirtschaftsamtes von Balingen ist er Maiers härtester Gegner im Kampf vor den Gerichten.

Maier erinnert sich ungern daran. Lieber möchte er sich nun dem Leben seiner Tiere zuwenden. Er füllt alte Weinflaschen ab mit warmer Milch für seine beiden Waisenkälbchen, legt sie auf die Rückbank des Toyota Corolla 4W, Baujahr 1983, dem man nur noch Monate zutraut. „Reich werde ich nicht mit meinen Viehchern.“ Keine kritische Masse aus betriebswirtschaftlicher Sicht hat seine Herde. Zudem lässt Maier seine Tiere im Durchschnitt viereinhalb Jahre alt werden. Im normalen Mastbetrieb werden sie schon nach 18 Monaten geschlachtet. „Und Geld bringen sie nun mal erst in totem Zustand.“

Maier parkt den Wagen am Rand der Weide und läuft auf die Herde zu, die unter Bäumen im Schatten liegt. Sortiert in Familienclans. Maier kennt sie alle. Jedes einzelne Tier. Ein Kalb trabt auf ihn zu. „Ja, Bani“, ruft Maier  in einem Tonfall, in dem man mit kleinen Kindern spricht. Nichts Scharfes mehr ist in seiner Stimme, nichts Lauerndes in seinem Blick. „Ja, Eschi.“ Als beide Kälber um ihn stehen, gibt er ihnen die Flasche mit der Milch. Danach saugen sie sich für fast eine Viertelstunde an seinen Fingern fest. „Man muss ein Gefühl haben für sie,“ sagt er.

Maier hat es. Weil er sich von Kindheit an den Viehchern immer ein wenig näher fühlte als den Menschen, weigerte er sich nun, da er den Hof übernahm, den Gesetzen der neuen Landwirtschaft zu beugen. Im Gegenteil. Er pachtet neues Land, um die Tiere ans Licht zu führen. Die sich dort fremd fühlen, nicht verstehen, dass auch gefressen werden kann, was nicht in einem Trog vor ihnen liegt. Wie das Gras, das auf der Weide wächst. Degeneriertes Vieh, denkt Maier, das seine Instinkte lange schon verloren hat. Aber irgendwann wird es schon begreifen, dass es das Beste ist. Auftrieb, Abtrieb, mühsam ist der ständige Wechsel zwischen Stall und Weide. Als sein Vater Mitte der Siebziger an Krebs stirbt, lässt Maier die Tiere ganz draußen. Es ist Winter und Maier endgültig Thema im Dorf. Wo Konventionen Gesetzen gleich kommen. Und Maier sich, so geht die Meinung, schon immer zu gut war, am Stammtisch zu sitzen oder im Kirchenchor zu singen. „Für so was hatte ich einfach nie Zeit,“ sagt Maier, „das war wahrscheinlich ein Fehler.“ Aber er sei ja eigentlich immer schon ein Einzelgänger gewesen. Der arbeitet von morgens bis nachts. Weil er nebenher mit seinem Sohn noch einen Traktorvertrieb betreibt und Stahlhallen baut. Womit er lange Zeit seine Tiere praktisch privat subventioniert.

Die Rinder kann man nicht da draußen lassen, das überleben die nicht. Schöner Tierfreund. Lässt seine Viehcher frieren und knietief im Dreck stehen. Verrecken doch bestimmt alle. „Schweinemaier“. So geht in Ostdorf lange die Rede über den Eigenbrötler vom Hof in der Dorfstraße 42. Erst recht, nach dem sich Maier an einem Herbsttag im Jahr 1986 dazu entschließt, sie dort draußen auch noch zu schlachten. Damals will er zusammen mit zwei Metzgern den Bullen Axel auf den Viehwagen zum Schlachthof zerren. Nie in seinem Leben eine Kette gespürt, stemmte der sich mit ganzer Kraft dagegen. „Zwei Stunden haben wir den Kerle gequält und als er müde war, hat er jämmerlich geschrieen.“ Maier bat den Metzger, mit dem Bolzenschussgerät  dem Leiden ein Ende zu bereiten. „Von da an habe ich mir geschworen, dass meine Tiere nicht mehr in Panik sterben.“ Von da an auch wächst seine Herde von dreißig auf 240 Tiere, weil Maier, stur und stolz in seiner Überzeugung wie ein wilder Stier, bis zum Richterspruch von 2001 aus Protest keines mehr holen lässt und selbst keines schlachten darf. Und weil für ihn Kastration nie in Frage kam. „Die wollen doch auch ihren Spaß haben."

Irgendwo habe er mal gelesen, sagt Maier und krault den riesigen Kopf von Annemann, dem Leitbullen, „dass man das Unmögliche versuchen muss, um das Mögliche zu erreichen.“ Im Grunde völlig unmöglich sei es ja, seine Art der Tierhaltung eins zu eins übertragen auf das große Ganze. Aber den Geist von Ostdorf, wie Maier sagt, ohne Hang zur Bescheidenheit wie meist, könne man doch vielleicht übernehmen. Dieses Konzentrieren auf das Wesentliche. Diese Nähe zum Tier, das ja auch ein Lebewesen ist. Ganz reell.

Maier geht zurück zum Auto und sagt, leiser als sonst: „Man braucht doch ein Ziel im Leben, für das man kämpfen kann.“ Sonst sei es doch sinnlos. Bevor er ins Auto steigt, hallt ein röhrendes Brüllen herüber. Maier dreht sich um, erkennt aus der Ferne Iris, die 15 Jahre alt ist. „Meine Oma.“ Er lächelt. „Die hat bei mir ein gutes Leben gehabt.“