Ramstein

In Ramstein, 15 Kilometer westlich von Kaiserslautern, am Rande eines großen Parkplatzes nahe der US-amerikanischen Air-Base, steht ein verwittertes Holzschild. Darauf ein Pfeil und darüber: „Zur Gedenkstätte Flugtag-Katastrophe 28. Aug. 1988.“

Ein kurzer Pfad führt zu einem Wäldchen, in dem zwei Sitzbänke stehen und gegenüber ein großer Stein aus Granit, auf dem siebzig Namen eingraviert sind. Von jenen, die damals starben, als der Tod vom Himmel fiel. 

Als Roland Fuchs zwei Drittel seiner Haut verbrannten, er seine Frau verlor und seine Tochter und ihn die Erinnerung daran bis heute nicht loslässt. Als dumpfer Schmerz, der bleibt. Tief im Inneren. Der auch nach 22 Jahren noch schubweise in das Glück dringt, dass ihm eine neue Familie beschert hat.

Der 28. August 1988 war ein Sonntag mit strahlend blauem Himmel. Wie jedes Jahr fand auch in diesem wieder eine Flugschau statt in Ramstein, dem größten Flugstützpunkt der Amerikaner außerhalb der USA. Wie jedes Jahr wurde den Besuchern Spektakuläres am Himmel geboten. Und auf dem Boden Volksfeststimmung. Ice-Cream, Hamburger, Dixieland. Amerika für einen Tag. 350'000 Menschen waren da. Auf den Autobahnen und Bundesstraßen rund um Ramstein hatte es kilometerlange Staus gegeben. Väter fotografierten begeistert ihre Söhne, vor den Jets posierend, die noch in den Hangars standen. Deren Piloten ab Mittag dicht über den Köpfen Manöver in Perfektion flogen. Drei Stunden lang.  

Dann hallte vom Tower her die Stimme des Ansagers der Flugstaffeln. Es war 15.41 Uhr und er kündigte den Höhepunkt der Schau an, den letzten Programmpunkt: die „Frecce Tricolori“, die dreifarbigen Pfeile. Damals die besten Kunstflieger der Welt. Sie wollten ihre berühmteste Flugformation zeigen: „Das durchstoßene Herz.“ 

Zehn Flugzeuge vom Typ „Aermacchi MB 339-A“ donnerten heran, malten mit den Abgasfahnen ihrer Düsen ein Herz in den Himmel. Neun teilten sich auf, einer, der Solopilot, Oberstleutnant Ivo Nutarelli, 38 Jahre alt, hielt seinen Kurs, flog dann einen Looping, um den anderen entgegenkommend das Abgasherz zu durchstoßen. Vom Boden starrten sie staunend hinauf. 

Auch Roland Fuchs drehte sich noch mal um. Sie waren ja schon am Gehen. Weil sie die Chance nutzen wollten, vor dem offiziellen Ende zum Auto zu kommen. Um rechtzeitig zuhause in Waibstadt zu sein, zwei Stunden Autofahrt entfernt von Ramstein. Am Abend wollte er noch etwas arbeiten. Seine Frau Carmen hielt er an der einen Hand, Nadine, seine Tochter, fünf Jahre alt, mit blondem Haar, an der anderen. Es war kurz nach 15.44 Uhr und Nutarelli vier Sekunden zu früh auf dem Rückweg. Seine Maschine berührte eine andere, fing Feuer, schraubte sich in Richtung Publikum. Oben noch war das Abgasherz zu erkennen, während sich unten schon ein unbeschwerter Sonntag in eine der folgenschwersten Katastrophen der Bundesrepublik verwandelte.

Damals war Roland Fuchs 23 Jahre alt, heute ist er 45. Er hat wieder geheiratet in dieser Zeit, 1994, ist Vater dreier Töchter geworden, hat ein relativ normales Leben geführt seit Ramstein. Relativ. Denn so, wie ihm viele Freunde und Verwandte sagten, noch als er im Krankenhaus lag, „wie ich am Anfang sogar selbst gedacht habe“, dass in spätestens zwei Jahren alles vergessen ist, so kam es nicht. Allein sein Körper erinnert ihn zu oft daran. 

Fuchs sitzt an einem diesigen Tag Ende Juli am Küchentisch seines Hauses in Waibstadt, einem Städtchen in Nordbaden, 20 Kilometer südlich von Heidelberg. Erst vor kurzem sind sie hier eingezogen, die Fassade ist noch unverputzt. Es ist das frühere Haus seiner Großeltern, das sie in den letzten Monaten renoviert haben. Gelegen in einer ruhigen Seitenstraße, geräumig, aber ohne Garten. Beim vorigen Haus, ein paar Kilometer entfernt von hier im Nachbarort, hatten sie ein großes Grundstück. „Aber das in Ordnung zu halten war körperlich irgendwann einfach zu hart für mich,“ sagt Fuchs. Und seine Frau, die auch mit am Tisch sitzt, sagt: „Du konntest den Garten im Sommer sowieso auch nie so richtig nutzen.“ Hat der Tag mehr als 20 Grad, ist es kein guter für Fuchs. Große Teile seiner Haut sind transplantiert, Arme, Hände, Gesicht. Sie können nicht schwitzen. Dann wird es heiß in seinem Körper „und ich fühle mich wie neunzig.“ Deswegen auch gehen sie immer nach Holland in den Urlaub, an die Nordsee. Nie in den Süden. 

Sein Körper ist das eine. Die Haut und das linke Ohr, das versengt wurde. Die Hände vor allem, an denen die Kuppen einiger Finger verbrannten und andere steif wurden, weil die Gelenkkapseln platzten durch die Hitze. Mit diesen Händen konnte er fortan nicht mehr viel anfangen. Schon gar nicht mehr seinen Beruf als Schreiner ausüben und auch keinen anderen mehr, so dass er seit dem Unglück nur noch von seiner Erwerbsunfähigkeitsrente lebt. 

Die Erinnerungen sind das andere. Auch wenn er mit ihnen haushalten muss, wie er sagt. Er schaut hinüber zu seiner Frau, lächelt. Sagt, in weichem badischen Akzent und mit ruhiger Stimme: „Ich muss auch Rücksicht nehmen auf meine Frau und meine Kinder.“ Das jetzige Leben müsse schon im Vordergrund stehen. „Sonst wäre es ja im Grunde auch umsonst gewesen, dass ich damals überlebt habe.“ Seine Frau nickt. Sie redeten nicht viel über Ramstein, vor allem, seit die Kinder da sind, sagt er. „Ich will sie so wenig wie möglich damit belasten.“ Bilder seiner damaligen Frau und seiner ersten Tochter standen dennoch lange Zeit im Wohnzimmer. Nach dem Umzug hat er sie nicht wieder aus dem Karton geholt. Seine Frau ist erleichtert darüber.

Jeden Monat aber, so hält er es weiterhin, fährt er nach Ramstein, schaut, ob die Gedenkstätte sauber ist, setzt sich auf die Bank vorm Gedenkstein. Auch wenn manche sagen, das sei Wahnsinn, sich dem immer wieder auszusetzen. Roland Fuchs sagt, er braucht das: diesen Kontakt zu seinem ersten Leben, um mit dem zweiten versöhnt zu bleiben. Sitzt dort, eine halbe Stunde oder eine ganze, hinter ihm blinken die Positionslichter der Airbase und vor ihm stehen auf dem Stein neben 68 anderen Namen: Fuchs, Carmen, 31.05.1967, Fuchs Nadine, 12.08.1983. Meist liest er auch die Zeilen „eines Augenzeugen“, die dort auf einem kleinen Schild neben dem Stein angebracht sind und die Fuchs sehr treffend findet. „Wenn Trauer so viel Schmerz bereitet, wer heute noch verstümmelt leidet, wer seit Jahren  jeden Tag vermisst, weil ein geliebter Mensch verloren ist. Für den stürzt Sehnsucht niemals ab. Sucht stets ihn das Entsetzen heim, wird es immer wieder Flugtag sein.“ 

Damals ging alles sehr schnell. Zwei Sekunden gelähmtes Erstarren der Zuschauer, dann ein alles erschütternder Knall, als die Unglücksmaschine 50 Meter entfernt der Absperrungen aufschlägt und explodiert. Trümmerteile fliegen in die Menge, eine Feuerwalze aus brennendem Kerosin breitet sich aus. In der einzigen Filmaufnahme, die später am Abend in der „Tagesschau“ gesendet wird, hört man aus all den Schreien einen Mann heraus, der „Anjaaa“ brüllt, zwei Mal, drei Mal, dann verstummt er plötzlich und man hört nur wieder die panischen Stimmen von allen, Frauen, Männern, Kindern. „So muss man sich die Hölle vorstellen,“ sagt Roland Fuchs, als er eine alte Zeitschrift mit Ramstein auf dem Titelbild auf den Küchentisch legt. 

Er selbst lag am Boden, seine Kleidung war schon verbrannt, aber er dachte, er müsste sie sich noch vom Leib reißen. Es war seine Haut. Er war benommen. In der Nase den Geruch von Benzin, frisch gemähtem Gras und verkohltem Fleisch. Ganz in der Nähe erkannte er das Gesicht seiner Tochter, die Haare abgebrannt. Sie lag in einer Kerosinlache und stand in Flammen. Er versuchte, sie mit seinen Händen zu löschen. Dann verlor er das Bewusstsein. Seine Frau sah er nicht mehr. Sie war zuvor schon von einem Wrackteil am Kopf getroffen worden und sofort tot. 

Er wolle nicht lamentieren, sagt Fuchs. Andere, die auch betroffen waren, hätten danach nicht so viel Glück gehabt wie er. Wären nicht mehr so recht zurückgekommen ins Leben.

Das  befreundete Ehepaar Rolbes beispielsweise. Sie hätten in Ramstein ihre zehnjährige Tochter verloren. „Mama, Papa, helft mir.“ Das war das Letzte, was sie hörten von ihr. Beide begannen danach exzessiv zu rauchen. Kinder bekamen sie keine mehr. Mitte der Neunziger hatten sie zwar noch mal neu anfangen wollen. Beruflich zumindest. Mit einem Sonnenstudio. Roland Fuchs hat noch die alte Zeitungsanzeige von dessen Eröffnung aufgehoben. „Sonne pur auch bei Regen.“ Das war das Motto von Rolbes’ neuem Solarium. Privat aber war bei ihnen nur noch Regen, auch wenn die Sonne schien. Sie lebten zurückgezogen. Von den vielen Bekannten vor der Katastrophe sagten immer mehr: „Jetzt muss es doch mal wieder weitergehen.“ Und nicht wenige sagten auch, dass sich die Amis bestimmt nicht hätten lumpen lassen bei den Entschädigungen. Gezahlt aber hatte nur die Bundesrepublik. Für Krankenhausaufenthalte, Operationen, Rehas und Umschulungen. Verlorene Angehörige wurden bei den Entschädigungszahlungen nicht berücksichtigt. 

Im Jahr 2003 starb Martin Rolbes, seine Frau Marion ein Jahr später. Beide an Lungenkrebs.

Mit Fügung des Schicksals oder so was habe das nichts zu tun, sagt Fuchs. „Wir waren einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.“ Seine Frau stellt Kaffee auf den Tisch und frisch gebackenen Kuchen. „Aber,“ er macht eine kurze Pause, „man verliert durch so was ein wenig das Grundvertrauen ins Leben.“ 

Weil in so kurzer Zeit nicht so viele Notarztwagen bereitgestellt werden konnten, mussten manche Verletzte von amerikanischen Soldaten in Bussen abtransportiert werden. Fuchs’ Tochter sollte ein junger GI ins 80 Kilometer entfernte Spezialkrankenhaus in Ludwigshafen bringen. Der aber war erst seit wenigen Tagen in Deutschland stationiert, hatte weder Orts- noch Sprachkenntnisse und die Polizeistreife, die ihn dorthin eskortieren sollte, begleitete ihn nur bis zur Autobahn und ließ ihn dann allein, weil sie sich wieder auf dem Unglücksgelände gebraucht fühlte. In Ludwigshafen irrte er panisch umher, ehe er nach drei Stunden das Krankenhaus erreicht hatte. Nadine starb elf Tage später.

Roland Fuchs wurde mehrmals für klinisch tot erklärt. 63 Prozent seiner Haut waren verbrannt. „Normalerweise überlebt das niemand,“ sagt Fuchs. Bei ihm, sagten sie, habe wahrscheinlich geholfen, dass er damals viel Sport getrieben hatte, sehr durchtrainiert war, irgendwie genug Kraft hatte, sich gegen den Tod zu stemmen.

Im Oktober 1988 erwachte er das erste Mal aus dem Koma. Mehr als zwanzig OPs brauchten sie, um ihn wieder ins Leben zu flicken. Er wurde von einem Krankenhaus ins nächste verlegt, dann in die Reha. Und mehr als ein Jahr nach dem Unglück kam er nachhause. 

In dieselbe Wohnung, aus der sie sonntagmorgens zu dritt im Fiat Uno losgefahren waren. Sechs Jahre waren sie damals zusammen, zwei Jahre verheiratet und hatten schon viel erlebt. Die Geburt ihrer Tochter, als er 18 und sie gerade 16 war. Als sein Vater deshalb mit ihm brach. Zwei Wochen zuvor hatten sie in der Zeitung diese Anzeige gesehen, dass  in Ramstein, irgendwo in Rheinland-Pfalz, eine große Flugschau stattfinden sollte. 

Er hatte nun keine Frau mehr, keine Tochter, musste die Arbeit bei der Schreinerei, die er so mochte, aufgeben. Er hatte jetzt nur noch einen Schwerbehindertenausweis mit 100 % Erwerbsunfähigkeit und das Gefühl, als ob er im Krieg gewesen sei. 

„Ich lag zwischen Dutzenden verkohlter Leichen,“ sagt Fuchs, „und dann sollte ich plötzlich am nächsten Morgen bei Aldi Butter kaufen gehen.“ 

Von seinen Freunden zog er sich zurück. Und sie sich von ihm. Er schleppte sich noch auf ein paar Feste. Da waren Kinder das Thema, Arbeit, Autos, Urlaub, Frauen. Etwas sträubte sich in ihm, sich an den Gesprächen zu beteiligen. Nichts war mehr unbefangen. Nur noch unbeholfen. Weil die anderen nicht wussten, wie sich ihm gegenüber verhalten sollten. Und das manche sagten: „Mensch, das hätte uns auch passieren können,“ half ihm auch nicht weiter. 

Dass er eine neue Frau kennen gelernt habe. Dass sie ihn von seinem Schwur abgebracht habe, nie mehr zu heiraten und Kinder zu kriegen. Dass er die Geburt seiner Töchter miterleben durfte. Das habe ihm auf jeden Fall das Gefühl von Glück gegeben. Auch dass die Witwe von Ivo Nutarelli, dem Solopiloten, zum zwanzigsten Jahrestag der Katastrophe nach Ramstein gekommen sei, entgegen dem Willen der italienischen Luftwaffe, um mit den Hinterbliebenen zu gedenken, auch sie ja ein Opfer, das sei ein Glücksmoment gewesen. Dass sich der junge GI, der damals seine Tochter nach Ludwigshafen gefahren hatte, vor kurzem bei ihm gemeldet habe. Ihm sagte, wie froh er sei, ihn über das Internet endlich gefunden zu haben. Und wie er über all die Jahre mit seinem Schuldgefühl zu kämpfen gehabt habe, weil er sie nicht schneller ins Krankenhaus bringen konnte. Auch das war schön.

Aber richtig ausgelassen, richtig fröhlich. Das sei er eigentlich nie mehr gewesen seit damals. Das spüre er meist genau dann, wenn alle anderen es sind.