Olli Hoff

Die Rolle seines Lebens liegt nur siebzehn Kilometer entfernt von Oliver Hoff. Auf dem Melaten-Friedhof, wo Köln seine Prominenten begräbt. Auch Willy Millowitsch, Ehrenbürger von Köln und deutsche Bühnenlegende schon zu Lebzeiten. Hoff, 64 Jahre alt, ist Millowitschs einziger Imitator in Deutschland. Eine Art künstlerischer Nachlassverwalter. Obwohl man ihm damit nicht ganz gerecht wird. Denn er ist mehr als das, weil er ihn auf der Bühne weiterlebt, den Willy, das Original.

Hoff wohnt in einer einfachen Gegend in Porz, einem geerdeten Vorort von Köln. Gelb-braune Fünfgeschosser aus den Sechzigern, symmetrisch angeordnet, mit etwas Grün dazwischen. Einen Steinwurf von hier beginnt der Flughafen, so dass die Flieger dem Wohnblock manchmal bedrohlich nahekommen. Hoff fragt, ob man eigentlich wüsste, wo Millowitsch wirklich geboren sei. Er schaut einen an mit Siegerlächeln. Man muss nun also Nein sagen, damit er weitermachen kann. «In Düsseldorf», sagt Hoff, «weiß bloß keiner!»

Seit über dreißig Jahren schon geht Hoff raus aus sich und rein in Millowitsch. Er macht das hauptsächlich über die Stimme. Auch während des Erzählens als Hoff fällt er immer wieder in die tiefe, knarzende Stimmlage von Millowitsch, die einst im ganzen Land bekannt war. «Vielleicht», sagt Hoff, «bin ich der ja schon mehr, als ich denke.»

Für seine Auftritte muss auch der Rest stimmen. Das Äußere. Und weil Hoff heute Nachmittag in einem Altenheim noch «ran muß», hat er den Millowitsch schon angelegt: das weiße Hemd mit einem weißen Jackett darüber. Zwischen Kragen und Doppelkinn ein blaues, dreieckiges Tuch, das «er» oft trug und bei Hoff an eine umgehängte Serviette erinnert.

Man erkennt Hoff jetzt noch am kahlen Kopf, den nur ein Kranz grauen Flaums bedeckt. Das Original hatte bis ins hohe Alter volles Haar. Auch war Millowitsch schlanker. Oliver Hoff dagegen sinkt mit «105 Kilogramm Lebendgewicht» tief in seinen Ohrensessel, der zum Fernseher hin ausgerichtet ist.

Für den Besucher hat er heute einen kleinen Film auf Video vorbereitet, darauf eine Zusammenfassung seiner Karriere. Oder besser: deren Höhepunkte. Seine großen Auftritte beim Kölner Karneval und im Fernsehen sind darauf zu sehen. Über den Bildschirm flackern Ausschnitte, auf denen Oliver Hoff grölenden Karnevalisten den «Willy» gibt oder er zusammen mit Marie-Luise Marjan, der Mutter Beimer aus der «Lindenstrasse», auf der Bühne steht. Auch jener, wo er zu einer Talkshow des NDR eingeladen ist: Man sieht, wie Hoff von sich erzählt und der Moderator beginnt, mit seinem rechten Fuss zu wippen und immer öfter ein kurzes «gut» sagt und «ja». Hoff wendet sich in seinem Sessel zum Besucher auf dem Sofa, zeigt mit dem Finger zum Fernseher und sagt: «Da wollt der mich abwürgen. Das hab ich mir nicht gefallen lassen.» Hoff war zur Show eingeladen worden in der Rolle als Millowitsch. Die Nervosität des Moderators begann, als Hoff von sich selbst zu erzählen anfing.

«Haben wir noch ein bisschen?», fragt Hoff. Und sagt: «Du sollst ja auch was von haben, dass du extra zu mir kommst.» Er geht hinüber in sein ­Büro, das abgedunkelt ist wie das Wohnzimmer, weil seine helle Haut die Sonne nicht gut verträgt. Im Regal neben dem alten Computer steht ein Dutzend Ordner. «Da steckt mein ganzer Werdegang drin», sagt Hoff und nimmt einen heraus. Zeitungsartikel, kleine Ausschnitte, alles säuberlich eingeklebt. Auch die Zeit bei den 3 Colonias hat er darin konserviert. «Eine der Top Fünf unter den Kölner Karnevalbands.» Mit den Colonias war er von 1978 an fast zwanzig Jahre auf Tour. Und er als ihre Zugnummer, denn sein Millowitsch war das Herzstück. Während der Karnevalszeit hatten sie bis zu zehn Auftritte an einem Tag.

Dann aber bekam er einen Abszess. Genauer gesagt: Der Abszess bekam ihn. «Zehn Tage lang lag ich in meinem eigenen Saft.» Hoff stieg aus. Am Büroschrank hängt noch die vergilbte Titelseite der Essener Regionalausgabe der «Bild»-Zeitung vom März 1997. Mit der Schlagzeile: «3 Colonias: Trennung!» «Wir waren ja wer», sagt Hoff.

Kein Vergleich natürlich zum Original. Was für Berlin Harald Juhnke, ist für Köln Willy Millowitsch. Und als der starb, im September 1999, trug die ganze Stadt Trauer. Die Messe wurde abgehalten im Kölner Dom, der WDR sendete live, und beim Auszug spielte man in Moll eine Improvisation über Millowitschs «Ich ben ene kölsche Jung.»

Die Zeit wird langsam knapp, und der Tote muss nun weitergelebt werden von Olli Hoff, heute Nachmittag im Altenheim. Er zieht seine Seidenjacke über und greift nach einem Kopf aus Styropor, auf dem mit ein paar Sicherheitsnadeln befestigt das weiß e Millowitsch-Toupet steckt. Er tätschelt es und sagt: «Komm Willy, jetzt gehen wir arbeiten.»

Der Ort des Auftritts ist ein großer, roter Klinkerbau am Rande von Köln. Im Festsaal, Raum E10, herrscht schon freudige Erwartung. Auf den Tischen stehen Wasser, Apfelsaft, Kaffee. Kein Alkohol, dafür Usambaraveilchen. Neben der Eingangstür sind Dutzende Rollatoren geparkt, fahrende Gehhilfen, die das Fortkommen erleichtern. Der Saal ist besetzt bis auf den letzten Platz. Mit älteren und alten Menschen, die sich darauf freuen, Willy noch mal zu sehen. Denn Millowitsch begleitete viele hier auf ihrem Weg durchs Leben, war ein Idol aus ihrer Zeit vor dem Altenheim. Und ist jetzt zumindest noch eine schöne Erinnerung.

Oliver Hoff sitzt draußen im Aufenthaltsraum, an einem Tisch ganz hinten in der Ecke. Er raucht noch schnell ­«eine Fluppe», trinkt eine Tasse Kaffee, «mit ordentlich Gebäck dazu, weil ich ein Süsser bin». Erzählt von Millowitsch. «Der hat mich immer zu seinem Geburtstag eingeladen.» Und Millowitsch sagte dann immer zu ihm: «Mensch, du Jeck, sach doch Willy zu mir!» Er sagte auch einmal Willy zu ihm, aber dann wieder «Herr Millowitsch». Weil der eben doch ein Star war und Hoff nur sein Imitator und nicht sein Freund. Nur einer, der Willy bewundert. Und Hoff wusste ja auch noch, wie es war, als er begann, Millowitsch zu imitieren: «Am Anfang hat der mich ignoriert, später akzeptiert, und am Ende erst hat er mich gemocht.»

Ein paar Minuten noch für Hoff. Drinnen unterhält sein musikalischer Begleiter die Wartenden mit dem Keyboard. Hoff hatte ihm gesagt: «Fang mal langsam an. Mit dem Donauwalzer. Und spiel wieder erkennbare Melodien.»

Die Heimleiterin kommt zu Hoff und fragt ihn, ob er bald so weit sei. Auch ob sie davor noch kurz das Finanzielle regeln könnten. Hoff nimmt nicht viel für Auftritte in Altenheimen. «Das Glänzen in den Augen der Menschen hier ist mir Bezahlung genug. Das ist hier doch Abstellgleis. Aus. Ende. Vorbei. Da freuen die sich hier über jedes bisschen Abwechslung.» Dann sagt er noch: «Ich hoffe, das ich nie in nem Heim lande.» Obwohl das hier eigentlich recht schön sei. Hoff drückt seine Zigarette aus, stemmt sich schwerfällig aus dem Stuhl und zieht sich das Toupet über den Kopf. Noch bevor er den Saal betritt, fällt er in schlurfenden, leicht gebeugten Gang, verbirgt die linke Hand hinter dem Rücken und ist nun ganz er, Willy, für eine Stunde. Für sein Publikum und für sich selbst, «denn auf der Bühne bin ich ja fast schizophren». Eine alte Dame begegnet ihm, berührt ihn am Arm und sagt: «Ach, das is ja schön. Der Herr Millowitsch.»

Hoff spielt den Millowitsch «so um die knappe achtzig». Denn in seinen letzten Jahren berührte Willy die Herzen der Menschen am stärksten. Und Oliver Hoff, das gibt der Imitator zu, möchte ja auch beliebt sein und vielleicht sogar ein bisschen geliebt. «Jeder braucht doch Anerkennung für irgendwas. Ist doch normal.»

Mit ausgestrecktem Finger zeigt Hoff ins Publikum und ruft: «Sie kenn ich doch!» Die weißhaarige Dame in der ers­ten Reihe schaut überrascht. «Sie sind doch aus Kölle!», ruft er ihr zu. «Sie sind mir früher mal nachgelaufen!» Die Frau gackert schon in Erwartung der Pointe. «Weil ich Ihnen die Tasche geklaut hab.» Nun lacht der ganze Saal. Hoff hat das Publikum bekommen. Jetzt kann er beginnen mit Millowitschs Liedern. Liedern von der Liebe, der Sünde, von Heimat, dem Saufen und dem Alter. Von der ganzen Tragikomödie des Lebens.

Er singt das volle Repertoire: «Schnaps, das war sein letztes Wort», «Ich bin ne kölsche Jung» oder «Wir sind alles kleine Sünderlein». Das fängt so an: «Warum sollen wir auf Erden schon zu kleinen Engeln werden?» Viele der Männer im Saal entdecken bei diesem Lied noch einmal ungeahnte Kraft in der Stimme. Normalerweise spielt Hoff im Altenheim das kurze Programm, 45 Minuten, «weil doch viele schnell erschöpft sind». Heute aber merkt er, «dass es funkt», und bleibt für über eine Stunde oben auf der Bühne. Singt, erzählt, scherzt, ganz Millowitsch. Er kann ihn ja in allen Lebens- und Gemütslagen. Zum Ende hin melancholisch. «Freunde, es gibt bestimmt ein nächstes Mal. Es gibt doch immer ein nächstes Mal!», ruft er den vor Lachen und Sehnsucht geröteten Gesichtern zu, ahnend, dass es das für einige hier nicht mehr geben wird. Bevor er abgeht, sagt er dann noch: «Es war mir eine Ehre, hier zu sein. In dieser weltberühmten Stadt.» Er wendet sich zu seinem Partner am Keyboard, fragt ihn laut: «Wo waren wir hier denn eigentlich?» Nach dem Abgang wackelt er durch die Stuhlreihen hinaus, noch als Millowitsch, „Ich möcht denen die Illusion nicht rauben in dem Moment.“ Köpfe drehen sich nach ihm um, Hände berühren ihn, als ob sie ihn festhalten wollen. Er genießt solche Momente.

Zu Hause wartet keiner auf ihn heute Abend. Die Wohnung, vier Zimmer groß, hat er gekauft, als er noch verheiratet war. Und sein Sohn Mike elf Jahre alt. Die Frau ist schon lange weg, Mike heute 36, er wohnt seit kurzem im Wohnblock gegenüber, parterre. «Mit seiner Schickse», wie Olli Hoff sagt.

Mit der eigenen „LAG“, er lächelt, „meiner Lebensabschnittsgefährtin“, sei gerade Sendepause. Seit fast zehn Jahren sind sie zusammen, mal mehr, mal weniger. Momentan eher weniger. «Keine Ahnung, was da los ist,“ sagt Hoff. „Seit Monaten meldet die sich nicht mehr.» Er sei zwar ein schwieriger Typ mit seinem Geschwätz, aber die Weiber seien noch viel schwieriger. Außer ihnen lebten meist noch Tiere bei ihm. Die aber seien alle bekloppt gewesen. «Meine erste Katze hat Selbstmord begangen.» Stand irgendwann auf dem Balkon im achten Stock und ist gesprungen. Wahrscheinlich einem Vogel hinterher. Hoff aber vermutet lächelnd: «Die konnte das Elend bei mir nicht mehr ertragen.»

Hoff ist ein bisschen müde. Er spricht für kurze Zeit nicht als Millowitsch und nicht als Hoff, der Komiker, weil «Komiker ja auch mal ihre stillen Stunden haben». Er sagt: «Mensch, allein sein kann manchmal ganz schön einsam sein.“ Aber er habe ja noch den Millowitsch und damit sein Publikum. Auch wenn das meistens «Willy, Willy» ruft. Aber wer lügt sich nicht an von Zeit zu Zeit?  Außerdem, tröstlich für Hoff, der mit seinen 64 Jahren immer öfter ans Altwerden denkt: Millowitsch wurde 90. Er kann ihn also noch sehr lange geben. «Mit Roy Black wär ja nun schon Schluss.»

Und dann ist da noch der Auftrag vom Original oder eher: die Bitte. Millowitsch, er war schon älter, sagte mal zu Hoff: «Jung, mach das weiter. Es gibt nichts Schöneres, als wenn man nicht vergessen wird.»