Mobilfunk

Der Weg ins kleine Glück von Ulrich Weiner ist nicht leicht. Es liegt in einem tief eingeschnittenen, schroffen Seitental weit hinter Furtwangen, das man nur erreicht mit intimen Ortskenntnissen und über abenteuerlich gewundene, schmale Straßen. Fernab des nächsten Hauses, noch ferner der nächsten Siedlung, fast ohne Gefahr, dass sich dorthin Menschen verirren. Hier steht des morastigen Untergrundes wegen auf Holzbrettern der Wohnwagen von Ulrich Weiner. Ein Aufkleber neben der Tür zeigt ein durchgestrichenes Handy. Und den kurzen Text: „Krebs, Alzheimer, MS, Impotenz? Telefonieren mit dem Handy? Ich bin doch nicht blöd.“

Ulrich Weiner, „einfach Uli“, gehört zur Gruppe der Elektrosensiblen. Menschen, die empfindlich reagieren, wenn sie hochfrequenter Strahlung ausgesetzt sind. Jener für den Empfang von Digitalfernsehen zum Beispiel oder Radio, vor allem aber: von Mobilfunk. Sechs Prozent der deutschen Bevölkerung geben an, mit körperlichen Symptomen darauf zu reagieren. Bei nur geschätzten etwa 20’000 Menschen sind die empfundenen Symptome aber so stark, dass sie für sich entschieden haben, fortan nur noch in Funklöchern überleben zu können. Wie bei Uli Weiner, der 33 Jahre alt ist und seit über sechs auf einer Reise der anderen Art. Von Funkloch zu Funkloch. In kleinen und immer kleiner werdenden Gebieten, in denen es keinen Handyempfang gibt und also keine hochfrequente Strahlung. In denen noch kein Sendemasten steht, weil es dort nicht lohnenswert erscheint für die großen Mobilfunkbetreiber. Trotzdem schwinden auch diese weißen Flecken, weil es für Vodafone, O2 oder E-Plus immer mehr zur Imagefrage wird, wie groß ihre Netzabdeckung ist. Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) spricht davon, dass mittlerweile nur noch etwa 0,4 Prozent der Fläche Deutschlands ohne Handyempfang ist. Der Feind von Uli Weiner spinnt sein unsichtbares Netz immer engmaschiger.

Hier aber hat Weiner seine Ruhe. Vorerst. Hier lebt er sein übersichtliches Leben auf acht Quadratmetern im Wohnwagen und den wenigen hundert Metern Wald und Weg und Wiese ringsum. Nur so weit reicht sein kleines Glück, dann hört es auf. Abrupt. Weil dann sein Breitbandempfänger, Typ „Profi Spion“, zu rauschen beginnt, Zeichen für elektromagnetische Strahlung in der Luft. „Das ist wie so eine Art unsichtbare Gefängnismauer,“ sagt Weiner und lächelt, „die für mich aber sehr fühlbar ist.“ Verlässt er die virtuelle Demarkationslinie, würde es, „ist ja klar,“ sehr gefährlich für ihn. Es beginne mit Kopfschmerzen. Schnell kämen Kreislaufprobleme dazu, Übelkeit, Herzrasen, Sehstörungen, schließlich Herzrhythmusstörungen. „Und nach drei Tagen,“ sagt Weiner, dreht seine Handflächen nach oben und runzelt die Stirn, „wäre ich sicher tot.“ Es klingt nach Gewissheit. Wissenschaftlich ist ein solcher Fall weltweit nicht bekannt.

Weiner sitzt auf einer Eckbank, rotes T-shirt, blasse Haut, dünner werdendes, blondes Haar ohne Frisur, vor sich den „Profi Spion“, der ruhig ist, nur der kleine Bach rauscht im Hintergrund, der durch das Tal fließt. Auch tagsüber ist es halbdunkel im Wagen, weil keine Sonne hierherkommt und Weiner selten das Licht anmacht, weil er Strom nur aus einem kleinen Generator bezieht. Über ihm stehen Bücher in einem Regal, „Elektrosmog – eine reale Gefahr“, „Generation Handy“, „Grundlage der Funk- und Kommunikationstechnik“, die Bibel. Aus der er liest jeden Morgen. Die ihm Hoffnung gebe in seinen dunkleren Stunden hier. Von der Decke herunter baumelt ein Tropf, den er füllt mit einer Lösung aus hochdosiertem Vitamin C und Kalzium. „Das hilft mir wieder auf die Beine, wenn ich mal draußen war.“ Weil Weiner trotz allem viel unterwegs ist in Feindesland. Um Aufklärung zu betreiben über die Gefahren des Mobilfunks und die Ignoranz derselben durch Politik, Betreiberfirmen und eben auch den Nutzern selbst. Er beschäftigt sich ja seit Jahren mit nichts anderem mehr, ist anerkannt auf seinem Gebiet.

Die Entwicklung der Handynutzung ist gewaltig. Laut Bundesnetzagentur, Deutschlands Behörde für Telekommunikation, gab es noch 1999 erst 23, 5 Millionen Handys, 2003 schon 65 Millionen und im letzten Jahr zählte man 108 Millionen, mehr als Einwohner. Und waren Anfang der Neunziger, zu Beginn der Handyära, gerade einmal tausend Sendeanlagen installiert, sind es mittlerweile 70'000, die über das Land funken, um dem monströsen Datenstrom Herr zu werden und dem Wunsch der meisten Handynutzer nachzukommen, immer und überall erreichbar zu sein. Gleichzeitig aber wächst das Unbehagen, weil zumindest übermäßig gesund das alles nicht sein kann. Über 15'000 Bürgerinitiativen haben sich dem Mobilfunk und seinen vermeintlichen Folgen schon verschrieben.  

Deswegen ist Weiner gefragt. Erst vor kurzem war er wieder unterwegs für Vorträge in Bayern. Jedes Mal, wenn er sein Refugium verlässt, „in die Exposition geht,“ wie er es nennt, bereitet er sich vor, als ob er in eine Schlacht zieht. Windet sich in seinen Strahlenschutzanzug, mit in Baumwolle eingenähten Silbernähten, die wie ein Faradayscher Käfig wirkten und die Strahlung zurückwiesen. Dann zieht er die Kapuze aus demselben Stoff über den Kopf und zum Schluss eine Gittermaske vor das Gesicht. Zuletzt aber half alles nichts. Als er vor einer Klasse stand für eine Stunde, war es plötzlich vorbei. Die Strahlung war wohl zu groß im Raum. „Vermutlich hatten einige trotz meiner Bitte am Anfang noch ihr Handy an.“ Er hetzte vom dritten Stock des Schulgebäudes die Treppen hinunter, rannte wie auf der Flucht bis zu einem nahen Park, „wo ich mich ein wenig erholen konnte.“ Von den Schülern erntete er nur, wie sonst auch, wenn er unterwegs ist, Lächeln hinter vorgehaltener Hand oder zu einer Hand auf der Stirn. Er könne die Leute ein wenig verstehen sogar. Weil sich das keiner vorstellen könne. „Man riecht ja nichts und schmeckt auch nichts.“ Weil es eben kein Sinnesorgan gebe für Strahlung. Immerhin hätten die Elektrosensiblen noch das Glück, dass sie die Strahlung spürten und eben entsprechend handeln könnten. „Viele leben ja mit dieser Krankheit, ohne es zu wissen.“ Diesen Vorteil zumindest habe er. Ein Vorteil, der ihm ein Leben an idyllischen Orten beschert. „Mit der Natur.“ Ein Vorteil, der ihn aber auch einsam macht. Eine Freundin hat er keine. Wobei das wohl auch schon vor seiner Krankheit etwas schwierig war. Die vielen Leute, die ihn besuchen kommen in seinem Wohnwagen, sind zwar gerne dort. Aber eben auch schnell wieder weg. Manchmal kommt er sich ein bisschen vor wie ein Tier im Zoo. Nur zu den jeweiligen „Nachbarn“ habe er immer ein herzliches Verhältnis gehabt. Weil in den Flecken, wo er sei, ja immer nur wenige Menschen wohnten und der Zusammenhalt dort automatisch größer wäre. Die ihn oft auch schon nach kurzer Zeit mit Lebensmittel versorgen würden, „weil auch beim Einkaufen die Exposition einfach zu stark ist.“

Ulrich Weiner hatte „Stress“. So lautete die erste Diagnose seines Hausarztes. Das war im Jahr 2001. Als er das erste Mal über Erschöpfung klagte. Was nachvollziehbar war. Schließlich hatte er mit 18 Jahren ein eigenes Unternehmen gegründet. Im Bereich Telekommunikation. Das war er seiner Leidenschaft für Funk und Technik wie seiner Ausbildung zum Kommunikationstechniker schuldig. Und auch Gott, der, als Weiner 15 war und verwirrt vom Leben, ihm sagte, er solle eine Firma gründen. Die schnell wuchs. Mit der er gutes Geld verdiente, dass er aber immer gleich wieder wegschenkte. Es geht ihm immer schlechter. Mit den wenigen Ausnahmen, dass sich sein Zustand bessert, wenn er nicht mit dem Handy telefoniert. Er informiert sich und findet einen Begriff: Elektrosensibilität. „Von da an war mir alles klar,“ sagt Weiner in den Wohnwagen, mittlerweile liegend auf der Bank. Dann steht er auf und schließt sich an den Tropf an. Um die Strapazen der letzten Tage besser zu verarbeiten. Im Jahr 2002 sind es 147 Krankheitstage. Weiner flüchtet das erste Mal in den Wald. Kehrt aber wieder zurück. Bricht Wochen später zusammen. 2004 attestiert ihm ein Arzt „extreme Elektrosensibilität.“ Der 28. Februar 2004 wird sein letzter Arbeitstag bis heute. Und das Ende seines ersten Lebens. Die Angst vor der Strahlung wird fortan sein Begleiter.

Seit diesem Tag auch führt er seinen Kampf gegen die Krankenkassen. Die ihn als erwerbsunfähig anerkennen, Elektrosensibilität endlich als Behinderung einstufen sollen, wie es in Schweden schon üblich sei, wo Elektrosensible sogar einen Behindertenausweis hätten. Die Krankenkassen aber orientieren sich an den zahlreichen Studien, die einen Zusammenhang zwischen Krankheitssymptomen und Mobilfunkstrahlung nicht erkennen können. Und erkennen andere Studien nicht an, die das Gegenteil behaupten. Seit Jahren kommen und gehen Studien für und wider wie Wechselstrom.

„Irgendwann,“ sagt Uli Weiner tonlos, „werden die schon alle sehen, was sie davon haben.“ Solange wird er ohne Sozialhilfe leben müssen, weil er rein rechtlich ja noch arbeiten könnte. Mehr Angst macht ihm aber, dass sie ihm irgendwann vielleicht auch diese Zuflucht wieder „verseuchen mit einem Sendemast.“ Dass er sich dann wieder auf die Suche machen muss nach einem neuen kleinen Stück Glück. Und dass es irgendwann keines mehr geben könnte. Dann, sagt er, wäre Ulrich Weiner, geboren am 2. Februar 1977 in Augsburg, am Ende von allem. Aber so weit will er noch nicht denken.