Ein kurzes Leben

Drei Monate zu früh kam er in die Welt. Für das Leben war er noch nicht gerüstet. Multiorgandefekt. Herz, Milz, Lunge – nichts funktionierte, wie es sollte. Man operierte ihn drei Mal in seinen ersten vier Wochen. An deren Ende hatte Philippe den Kampf gewonnen. Er überlebte. Sein Lungengewebe aber war zerstört durch einen Infekt. Atmen würde er von nun an nie mehr können ohne Maschinen. Ein Leben am künstlichen Schlauch, am seidenen Faden. Den Eltern sagten die Ärzte: „Er wird höchstens drei Jahre alt. Mehr ist medizinisch nicht möglich.“ Philippe wurde neunzehn Jahre alt. Neunzehn und ein halbes. Nachdem er über zwei davon auf der Intensivstation verbrachte, sagten die Eltern, Kerstin und Frank Kromer*: es ist genug, er kommt nach Hause. Wieder waren die Ärzte skeptisch, entgegneten: ein Himmelfahrtskommando. Doch die   nahmen ihren Sohn trotzdem mit - damals fast einmalig in Deutschland. „Der technische Fortschritt in der Medizin erlaubt es heute, dass immer mehr Eltern ihre Kinder zuhause pflegen können,“ sagt Jutta Pagel vom Landesverband für Mehrfachbehinderte. Vier Prozent aller Geburten in Deutschland kämen mit schweren Behinderungen auf die Welt, welche die Geborenen ein Leben lang abhängig machen von anderen und den meisten von ihnen eines nur auf Zeit gewährten. Jedoch: „Dieser Fortschritt gibt vielen Eltern die Möglichkeit, die herzbrechende Situation zu vermeiden, ihr Kind in einem anonymen Krankenhaus zu wissen.“ Sagt Pagel. „Und deswegen nehmen immer mehr von ihnen ihr behindertes Kind in den Kreis der Familie auf.“

Am großen Esstisch sitzen nun die Eltern von Philippe in ihrem Haus im süddeutschen Tübingen. Zwei Kerzen flackern, in einem Aquarium ziehen Fische lautlos ihre Bahnen. Ruhig ist es jetzt im Haus, so ruhig wie in all den neun Jahren nicht, in denen sie hier schon wohnen. Der Blick geht durch den überbreiten Türrahmen hinüber zu Philippes Zimmer, in dem noch immer sein Rollstuhl steht. Und eine Vase mit Rosen vor einer Staffelei, darauf ein Bild von Philippe in Größe DIN A1. Es zeigt ihn mit einem so unbändigen Lachen, als sei das Leben ein Fest und er der Gastgeber. Vor ein paar Wochen ging das Fest zu Ende, Philippe starb, seine Lunge versagte endgültig ihren Dienst.

Was gab es zu feiern für jemanden, der durch ein großes Loch im Hals beatmet wurde, dass ständig neu verbunden werden musste? Für jemanden, der kaum laufen konnte, weil ihm die Luft fehlte dazu? Dem das Sprechen unmöglich war. Vielleicht das: er fand Glück, ohne danach zu suchen. Im Kleinen. Heute – das war für ihn nicht morgen, nicht gestern, nur: jetzt. Der Augenblick. Freude war für ihn schon, wenn Besuch nur angesagt war oder wenn einer seiner Pfleger ihn mit der Hand an der Stirn militärisch begrüßte. Dann schrie er, riss die Arme nach oben, so gut er konnte und man hatte das Gefühl, als ob er im Stadion ein Tor bejubelte. Und wenn jemand den Teller leer aß, dann fuhr er mit seinem Rolli neben ihn, klatschte laut und heftig Beifall und gab zur Belohnung einen Kuss auf die Wange. „Er hat gern gelebt und es genossen, einfach da zu sein“, erzählt Katrin Kromer. „Philippe war nicht unterzukriegen“, sagt der Vater, „obwohl er ja mehrere Tode gestorben ist.“ Eine kleine Erkältung genügte und wieder ging es für ihn um alles. Aber kaum zehn Minuten später sprang sein Lachen wieder an. Dieses Lachen, unverwüstlich, vielleicht, weil es von weit drinnen kam. Dazu der Daumen, der immerzu nach oben schnellte: alles klar, ich hab’s geschafft! „Dann wollte er sofort wieder was unternehmen“, sagt die Mutter und lacht weinend. Eine kurze Pause entsteht, wird nicht überbrückt von ihrem Mann, der Bilder holt von Philippe. Stille. Dann sagt sie: „Die Stille, das ist jetzt das Schlimmste.“

Als Philippe vor siebzehn Jahren von der Intensivstation nach Hause kam, begann das Leben der Kromers sich radikal zu ändern. Intimsphäre gab es für sie fortan keine mehr und ungestört Telefonieren konnte Kerstin Kromer in der 3-Zimmer-Wohnung, in der sie damals lebten, nur noch auf der Toilette. Immer waren da Pfleger, Zivildienstleistende, Ärzte, Krankenschwestern. Frühschichten, Spätschichten und jene, die über den Schlaf des Jungen wachten. Das Haus der Kromers war zuweilen ein mittelständisches Unternehmen mit 20 Sozialarbeitern, die ständig ein und aus gingen. Und dazu noch die vielen Beatmungsapparaturen, die seine Lunge keuchend aufpumpten. „Ohne all die Helfer hätten wir die Betreuung von Philippe niemals schaffen können“, sagt der Vater. „Irgendwann waren wir so etwas wie eine große Familie.“

Und dazu eine ganz normale. Fast. Als es Philippes Lunge noch besserging, fuhren sie im Sommer regelmäßig in den Urlaub. Meist an den Bodensee. Im Familienalbum erzählen Bilder davon, wie er in einem abschüssigen Garten sitzt und auf das Wasser hinausschaut, völlig versunken - als ob es die Schläuche nicht gebe. Später dann ging das nicht mehr, die lange Fahrt, zwei Stunden, war zu viel für ihn. Denn die Beatmungsmaschine drückte so stark auf die Lunge, dass ihr Gewebe Stück um Stück zerstört wurde.

Fast jeden Tag wurde er von seinen Pflegern in eine fünfzehn Kilometer entfernte Körperbehindertenschule gefahren. Und wie bei normalen Kindern war die Schule auch für ihn ein Ort, um die erste Liebe kennen zu lernen. Sarah hieß sie. „Die hatte es ihm wirklich angetan“, erzählt die Mutter lächelnd. Über ein spezielles Computerprogramm war es ihm möglich, einfache Texte zu schreiben. Und, viel wichtiger noch: sie sich laut vorlesen zu lassen. Immer wieder musste man ihm das Gesprochene abspielen, wie als ob er sich dadurch seiner selbst versicherte. Nach einem seiner Texte war er lange Zeit fast süchtig. Der ging so: „Sarah streichelt Philippes Hand. Sarah findet es ganz toll, wenn ich ihr was schenke. Das mag sie sehr und freut sich dann.“ War er zu Ende, fing er zu zittern an vor Aufregung. „Nochmal“. Ausdauernder war er nur noch beim Musikantenstadl, den seine Eltern ihm auf DVD’s bannten. Die schaute er sich leidenschaftlich gerne an. Und sehr laut, denn das mochte Philippe. Stille war ihm unheimlich. Tobias, sein jüngerer Bruder, konnte es manchmal nicht mehr hören. Aber Philippe ging immer vor, dass wusste er und so steckte er immer wieder zurück. Die Mutter sagt: „Wir haben unsere Bedürfnisse und auch die unserer beiden anderen Kinder voll nach Philippe ausgerichtet.“

Und der konnte auf seine Weise ja auch sehr dominant sein. Eine Dominanz, die kranke Menschen manchmal unbewusst ausüben, eben dadurch, dass sie krank sind, bedürftig und also abhängig. So dass eine gegenseitige Abhängigkeit entsteht zwischen dem kranken Kind und den gesunden Eltern. Lamentieren aber liegt den Kromers nicht. Sie wussten, auf was sie sich einließen, als sie Philippe nach Hause holten. Trotzdem: manchmal war es ein Kampf. Mit ihm und sich. Beim Essen beispielsweise. Denn außer beim alljährlichen Fest, wo alle Pfleger mit ihm beim Italiener feierten, hasste er das Essen. „Oft mussten wir ihn zu mehreren festhalten, um ihm ein bisschen Brei einzuflößen.“ Dazu schrie Philippe ängstlich, so dass seine Atmung oft aus dem Takt kam währenddessen. Ein Horrortrip für alle Beteiligten, mehrmals jeden Tag. Die Mutter sagt: „Man durfte nicht beginnen, mit sich zu hadern. Es musste einfach gehen. Und dann ging es auch.“

Einer, der viele Jahre dabei half und beim Tod Philippes die Abschiedsrede hielt, ist Marc Bauer.*  31 Jahre alt ist er und wohnt in der Dachwohnung im Haus seiner Eltern. „Der Philippe war ein Glücksfall für mich“, sagt er. Als Oliver vor zehn Jahren seinen Zivildienst bei Philippe begann, hatte er gerade eine gescheiterte Berufsausbildung als Betonwerker hinter sich, noch immer keine Erfahrung mit Mädchen und in der Schule viele Demütigungen von Mitschülern wegen seines Äußeren. „Mein Selbstvertrauen war völlig am Boden.“ Nach dem Zivildienst wurde er Altenpfleger, mit Philippe verband ihn vom ersten Moment an „etwas ganz besonderes.“ Seine Lebensfreude faszinierte ihn. Durch sie, sagt Marc, überwand er seine Lebenskrise. „Vielleicht können so nur Menschen sein, die völlig unbefangen sind und für die Äußerlichkeiten keine Rolle spielen.“

Oft begleitete er ihn zu Philippes Lieblingsort:  dem Nonnenhaus, einem Einkaufszentrum in der Innenstadt. Hier war immer Leben, hier war es immer laut: Stimmenrauschen, Musikberieselung, Sohlengeklapper. Das mochte Philippe, denn Stille war ihm unheimlich. Am Fuß der Rolltreppe, die vom ersten Stockwerk abwärtsführt, saß er jeden Samstag wie ein Pförtner, winkte die Menschen an ihm vorbei und klatschte vor Aufregung in die Hände. Dieser schmale Streifen zwischen Bäckereifiliale, Rolltreppe und dem Schreibwarenladen war sein Reich. Hier bestimmte er ganz allein über sich, während die Zivis im Bistro gegenüber ihren Cafe tranken. Manchmal sogar stemmte er sich aus dem Rollstuhl, um Passanten an der Schulter zu berühren, die dann lachten oder erschraken und nicht selten sich auch ekelten vor ihm. Aber auch das störte ihn nicht, denn eines taten sie alle im Nonnenhaus: sie bewegten sich. Und das war ihm wichtig. Denn dann war es, als ob er in die Körper der anderen schlüpfte. Dann fühlte er selbst sich in Bewegung.

Irgendwann saß er nicht mehr dort, es hing nun ein kleines Bild von ihm am Geländer und darunter stand ein Blumengesteck und eine rote Kerze. Die Verkäuferinnen der Bäckerei hielten sie über Wochen am Brennen.

Zur Trauerfeier kamen über zweihundert Menschen. Mehr als die Hälfte davon waren all die Pfleger, die Philippe über die Jahre betreut haben, die große Familie. Und natürlich auch seine Geschwister Tim und Sabrina. Die Mutter sagt, dass die beiden Philippe liebten wie einen „ganz normalen“ großen Bruder.

Auf dem Grab liegt nun in Klarsichtfolie eingehüllt ein Blatt Papier. In kleiner, krakeliger Schrift und in unterschiedlichen Farben steht darauf: „Denn du bist und warst unser bester, obwol du jetzt tod bist. Alle kamen zu deiner berdingung und sehr viele haben geweint und ich auch. Und es ist jetz ganß stil. Ich werde dir noch sehr viel zettel schreiben. Von Sabrina.“