Bestatterschule

In ihrer Freizeit reden sie selten über den Tod. Mal abschalten vom Alltag. Schließlich ist hier Programm, täglich von acht bis siebzehn Uhr, was für jeden unausweichlich wird. Unfälle, Krankheiten, die Endlichkeit des Lebens, gewollt oder ungewollt, das sind, nüchtern betrachtet, Ursachen, mit deren Folgen die Azubis dieser Schule später zu tun haben. Das Ende ist für sie der Anfang ihrer Arbeit.

Diese Schule ist die einzige dieser Art in Europa und erst seit vier Jahren in Betrieb. „BAZ Bestatter“ - das Bundesausbildungszentrum der Bestatter. Für die Spezialisten des letzten Weges. Gelegen an einer schmalen Straße im Zentrum von Münnerstadt, einem 7’000-Seelen-Ort nördlich von Würzburg. Gleich an der Grenze zum Landkreis Rhön-Grabfeld, der seinen Namen erhielt wegen der unzähligen Keltengräber in der Region.

An der Hauptstraße, von der aus man abbiegen muss, liest man auf einem Hinweisschild den Gang der Dinge, von oben nach unten: Jugendhaus, Altenheime, BAZ Bestatter.

Das Zentrum selbst ist ein lang gezogenes, einstöckiges Gebäude mit moderner Fassade aus grauem Aluminium. Darin könnten auch Seminare stattfinden für Manager, auf denen wichtige Dinge besprochen werden, Geschäftsstrategien, wie man neue Märkte anzapft oder alte besser ausschöpft.

Bei dem aber, was hier gelehrt wird, gibt es keine neuen Märkte und keine alten. Sondern immer nur denselben. „Weil ja immer gestorben worden ist und auch immer gestorben werden wird,“ sagt die Leiterin des BAZ, Rosina Eckert, eine Frau von Mitte Fünfzig mit praktischer Kurzhaarfrisur, die früher einmal auf dem Standesamt von Münnerstadt für Trauungen zuständig war.

Zwar sinke die Zahl der Verstorbenen in Deutschland seit einigen Jahren. Etwa 844'000 Menschen starben im vergangenen Jahr. 901'000 Todesfälle waren es noch 20 Jahre zuvor. Aber in zwanzig oder dreißig Jahren, sagt Eckert, kämen dann ja wieder die geburtenstarken und damit sterbeintensiven Jahrgänge aus den Fünfzigern an die Reihe. Sie sagt das sehr sachlich. Sie selbst gehöre schließlich auch zu diesen Jahrgängen.

An den hellen Kieferwänden des Bestatterzentrums hängen gerahmte Sinnsprüche. Zwischen Raum 1.1.6, Dekoration und Raum 1.1.7, Übungskapelle, zum Beispiel. „Meine Tante antwortete mir neulich auf die Frage, ob sie Angst vor dem Tode habe: ‚Nein, nein. Nur ein bisschen Reisefieber.’“

Es ist zwei Uhr an einem grauen Nachmittag und Lachen dringt über den Gang. Aus Raum 1.1.3, Materialkunde. „Kommen Sie ruhig näher,“ sagt ein kleiner Mann mit Lachfalten im Gesicht, zwischen den Händen eine Urne, die er zur Begrüßung hebt. „Gestatten, Engel, Bestatter.“ Thorsten Engel, „seit 17 Jahren Bestatter aus Leidenschaft,“ ist Dozent im Fach Werkstoffkunde. Urnen sind ebenso wie Särge prüfungsrelevanter Stoff. Die liegen hinter den neun Schülern in kleinen Schrankfächern, weil heute die Urne dran ist.

Auf einem Flipchart neben Herrn Engel steht als Überschrift: „Verzierungen bei Urnen.“ Betende Hände wären sehr beliebt, aber auch Rosenzweige stünden zur Auswahl oder eben Engel. Als er bei der Frage nach „relevanten Kriterien einer Urne“ keine Antwort von den Schülern erhält, erklärt er, dass die See-Urne aus einem Material sein muss, das sich spätestens nach zwölf Stunden auflöse. Und dass die Urne ein gutes optisches Erscheinungsbild abgeben müsse. „Also das, was auch ich darstelle,“ sagt Herr Engel, lacht, stülpt sich die Urne erst über den Kopf, hält sie dann vor seinen Mund und ruft hinein: „Test, Test.“

Bestatter seien eigentlich sehr lustige und lebensfrohe Menschen, sagt Engel nach dem Unterricht. „Mich wird daheim keiner mit einer Leidensmiene sehen.“ Die Hinterbliebenen seien schließlich schon traurig genug, wenn sie zum Bestatter kommen. Und Trost spenden könne nur jemand, der sich zwar in die Trauer einfühlen könne, selbst aber keine in sich trage.

Nach der Theorie steht am nächsten Morgen die Praxis auf dem Plan. Auf dem Lehrfriedhof des Bestatterzentrums, der am Ende einer Sackgasse am Ortsrand liegt, lernen die Schüler, Gräber professionell auszuheben. Dreißig Grabsteine stehen dort, die mal zu echten Toten gehörten, nun aber nur noch einen Verstorbenen vorgeben, zu Übungszwecken. „Seid getrost, denn ich habe diese Welt überwunden“ lautet die Inschrift auf einem. Für den jung verstorbenen Drechslermeister Gottlieb Weisheit.

Davor steht Martin,  ein großer Junge mit weichen Zügen und fragt: „Ist das nicht ein schöner Ort?“ Gerade scheint der erste Sonnenstrahl des Tages auf sein frisch ausgehobenes Übungsgrab. Peter Sandmeyer, Ausbilder im Fach „Grabtechnik“, betrachtet es lange. Dann nickt er: „Wunderbar.“ Ideale Tiefe, an den Rändern schön bündig. „Sieht gut aus.“ Der einzige Wermutstropfen sei, dass ein wenig Erde auf das Nachbargrab gefallen wäre. Sandmeyer sagt: „Jedes Grab ist wie ein Haus für die Leute. Da stecken die Hinterbliebenen all ihre Liebe rein.“ Deswegen habe jedes Grab für sich eine Intimsphäre, die es einzuhalten gelte. „Aber hier ist das nicht so schlimm,“ sagt er, „der echte Friedhof ist ja da drüben.“ Er deutet mit Kinn auf jenseits der trennenden Hecke, hinter der gerade ein älteres Ehepaar vorbeiläuft und ein wenig irritiert hinüberschaut auf eine Schar gut gelaunter, Gräber schaufelnder Jugendlicher.

Bei der Prüfung wird Martin den Fehler mit dem Nachbargrab nicht noch mal begehen. „Ich mach das ja mit Herz und Seele,“ sagt er. Nächstes Jahr ist er fertig mit der dreijährigen Ausbildung und darf sich dann „Bestatterfachkraft“ nennen. Im Gegensatz zu fast zwei Dritteln der derzeit 400 Auszubildenden, die diesen Beruf erlernen, kommt Martin nicht aus einer Bestatterfamilie. Auch wenn ihm als Sohn eines Pfarrers die Branche zumindest nicht völlig fremd war. Vor vier Jahren, mit fünfzehn, begann er sein erstes Praktikum. Die Bewährungsprobe erlebte er gleich zu Beginn. Sie mussten einen Selbstmörder mit Kopfschuss abholen. Sein Chef sagte ihm: „Entweder Du packst mit an oder Du gehst.“ Er blieb. In den folgenden Praktika sah er Wasserleichen oder verweste Tote, die monatelang bei Zimmertemperatur in ihrer Wohnung lagen. Wobei das Sehen gar nicht mal so schlimm sei, „aber das Riechen ist absolut widerlich." Man sollte als Bestatter nicht zu zart besaitet sein, sagt Martin. Aber immerhin mache der Umgang mit den Toten ja nur den kleineren Teil der Arbeit aus. Wesentlicher sei das Einfühlen in die Hinterbliebenen. „Die müssen ja mit dem Tod leben.“

Ausbilder Sandmeyer ruft über das Gelände: „Zigarettenpause.“ Martin ist Nichtraucher. Ausnahme unter seinen Mitschülern. Er sagt mit Lachen in der Stimme: „Naja, hab ich später weniger Konkurrenz und mehr zu tun.“ Bei Kaffee und Zigaretten unterhält sich der Bestatternachwuchs ungezwungen auch über ganz pragmatische Probleme des Jobs. Einer Mitschülerin von Martin ist aufgefallen, dass die Dicken oft oberhalb des dritten Stocks sterben. „Bis man die durchs Treppenhaus hat, ist man selbst schon halb gestorben,“ sagt sie und die Runde lacht. Schwarzer Humor ist sehr verbreitet in Bestatterkreisen. „Ein wichtiges Ventil,“ nennt ihn Sandmeyer.

Der Humor ist nicht geregelt im Ausbildungshandbuch des BDB, des Bundesverbandes Deutscher Bestatter, in dem ansonsten alle Lehrinhalte von Münnerstadt aufgeführt werden. Modul 6 zum Beispiel: Beratung und Betreuung. „Vermittlung von Kenntnissen im Verstehen der Trauersituation. Praktische Tipps zum Inhalt des Trauergesprächs.“ Modul 4: Aufbahrung und Dekoration. „Würdevolle und personenbezogene Aufbahrung zur Abschiednahme und zur Vermittlung von Ruhe, Harmonie und Wärme.“ Auch unter Modul 4: Warenkunde. „Herrichtung eines Sargrohlings, Sargausschlag, Verlöten eines Zinksarges.“

Nach der Mittagspause geht Herr Engel in der Werkstatt des Zentrums von Sarg zu Sarg. Es wird genagelt, geklopft und geschraubt. „Das Ziel ist,“ sagt Engel, „dass man heute Abend aus Sargrohlingen gebrauchsfertige Särge gemacht hat, in die man einen Toten betten kann.“ Gebrauchsfertig heiße in diesem Zusammenhang, dass der Sarg außen mit Griffen tragfähig sei. Und innen soweit mit Satinbezügen ausgeschlagen ist, dass nachher keine Flüssigkeit mehr auslaufen kann. Und dass die Schrauben soweit abgeschliffen sind, dass für den Verstorbenen keine Verletzungsgefahr mehr besteht. „Und natürlich auch für den Bestatter.“

An einem der Särge steht Martina und nagelt gerade den Stoffbezug fest. Auch sie kam aus Berufung zu diesem Job. Der Vater Maler, die Mutter Zahnarztgehilfin. Anfangs konnten die nicht begreifen, warum ein junger Mensch ständig mit dem Tod zu tun haben will.

Sie trägt einen grauen Arbeitskittel. „Pietät Schaack“ ist darauf gestickt, ihr Lehrbetrieb. Mit vier Jahren war sie bei der Beerdigung ihres Großvaters dabei. „Opa kommt in den Himmel, hieß es.“ Eigentlich aber kam er ja nach unten. „Das hab ich damals nicht begriffen,“ sagt Martina. „Aber von da an wollte ich mehr wissen über den Tod und das ganze Drumherum.“

Jetzt, mit 21, hat sie längst begriffen, „dass der Tod Teil des Lebens ist.“ Deswegen wolle sie ihn zumindest so gut wie möglich aussehen lassen. Deswegen auch mache ihr die Arbeit an den Särgen nicht sonderlich Spaß.

Viel lieber arbeitet Martina mit den Menschen selbst. Also den Leichen. „Sie schön machen, damit die Hinterbliebenen in Würde Abschied nehmen können,“ sagt Martina, „das ist was Tolles.“  Auch, damit der Tod begreifbarer werde. Ein bisschen wenigstens. Gerade für Menschen, die einen Angehörigen bei einem Unfall verloren haben oder vielleicht durch einen Herzinfarkt.  Wo alles sehr schnell ging und er plötzlich nie mehr da sein soll.

Um sie schön herrichten zu können, muss Martina zuvor eine Maßnahme ergreifen, die sich beim Fach Thanatopraxie nennt. Wobei das Blut des Verstorbenen durch eine Kanüle an der Hauptschlagader abgelassen wird und stattdessen Formaldehyd eingeflösst. Die Leichenstarre löst sich auf dadurch und auch die Todesflecken schwinden. Dann erst wird der Bestatter zu einem Visagisten des Toten. Kann den Verstorbenen waschen, ihn kämmen, schminken. „Aber nur, wenn sich die Person auch lebend geschminkt hat,“ sagt Martina. Denn das größte Kompliment für sie ist, wenn die Leute ihr nach der Aufbahrung sagten: „Noch ein Mal hat er genauso ausgesehen wie im Leben.“