Basejumper

„A good jump,“ sagt Fabien, gebürtig aus Albertville in den französischen Alpen, einundvierzig Jahre alt, klein, dünn und sehnig, Bart im schmalen Gesicht, wildes, angegrautes Haar, „a good jump is a jump, that you survive.“ Er lacht. „Aber schreib das lieber nicht.“

Fabien ist hier, im Lauterbrunnental, tief eingeschnitten ins Berner Oberland, gelegen zu Füßen von Eiger, Mönch und Jungfrau, Dorado der Basejumper aus aller Welt, von den Guten einer der Besten. Mehr als zweitausend Mal schon sprang er hinab von den Felswänden, die auf einer Länge von sechs Kilometern vom Ort Lauterbrunnen bis nach Stechelberg am Ende des Tales empor ragen. Bis zu neunhundert Meter hoch. Ideal für das Base-Jumping. Einer ungleich gefährlicheren Variante des Fallschirmspringens. Weil der freie Fall nach dem Absprung nur Sekunden dauern darf, bevor man den Schirm ziehen muss. 

Base-Jumping ist vieles für viele: Sport, Wahnsinn, Philosophie, Suchtkrankheit, sinnloses Spiel mit dem Tod, intensivste Art zu leben, weil sterben sowieso jeder muss früher oder später. 

Fabien sagt, er verstehe jeden. Auch die Gegner. Aber wer einmal gesprungen sei, der sehe es fast immer anders. Die Gefahr, das Überwinden der Angst oder doch zumindest des menschlichen Reflexes, sich nicht mit offenen Armen und ausgestrecktem Kopf senkrecht in die Tiefe zu stürzen, und dann, nach dem Absprung, vor allem: das Fliegen. Er schüttelt den Kopf. „So fucking intense.“ Auch noch nach zweitausend Sprüngen. Man sitzt an diesem Vormittag im „Basepoint“, seinem Cafe, das er vor einem Jahr hier im Ort eröffnete. Als eine Art Neubeginn nach der überstandenen Reha. Vor zwei Jahren habe er nach einem Sturz schon helles Licht gesehen. Der Chirurg hingegen habe so etwas in 18 Jahren Berufstätigkeit noch nicht gesehen. Schaffte es aber, die mehrfach gebrochenen Beine und den zertrümmerten Rücken wieder zusammenzuflicken. 

An den Wänden des „Basepoint“ hängen Plakate der Felswände des Tals. Mit allen Absprungstellen. Exits. Wie man sie nennt im Base Jumping. Ausgänge. Für viele auch ein Ausgang aus dem Leben. Zweihundertvierzig Menschen starben in den letzten zehn Jahren bei Unfällen. Einundvierzig davon allein im Lauterbrunnental. Die Exits tragen Namen wie Yellow Ocean, Nose 1, 2, 3, High Nose, Ultimate, High Ultimate. Ingesamt sechzehn, mehr also irgendwo sonst auf der Welt auf so engem Raum. Kategorisiert nach Schwierigkeitsgraden wie Skipisten. Blau, Rot, schwarz. Der High Ultimate ist der Königssprung. Nur für die Erfahrensten. Im Idealfall. Oder solche, die sich schon dafür halten. Im schlechteren Fall. 720 Meter hoch. Wobei die Höhe gemessen wird in Zeit, die ein Stein braucht, um auf dem Boden zu landen. 12 Sekunden beim High Ultimate.  

Wohin nun Fabien unterwegs ist. Der fast eine Woche schon nicht mehr gesprungen ist. So dass in ihm langsam diese Unruhe aufsteige. Wie ein ungestillter Hunger nach Adrenalin, der wie jede Diät üble Laune macht. „I’m scared to be bored,“ sagt Fabien und lächelt, „ich habe Angst davor, gelangweilt zu sein.“ Vor seinem Sturz habe es Tage gegeben, an denen er 15 Mal gesprungen ist. „That was bullshit,“ sagt er, „but I loved it.“ Schon als Kind war er hyperaktiv. Der Arzt empfahl ihm so viel Sport wie möglich. Mit vier Jahren begann er  mit Judo, vier Mal die Woche, dann fünf Jahre Gymnastik, fünf Mal die Woche, dann begann er zu Klettern, exzessiv. Snowboard. Fallschirmspringen. Exzessiv. Mehr als tausend Sprünge. So kam er vor zwölf Jahren schließlich zum Base Jumping. Für ihn die Quintessenz aus allem. Weil es um alles geht. Er dreht seine Handflächen nach oben. „When you fly, you forget all.“ Der reinste Weg, nur im Moment zu leben. Er lacht. „A bit like Peter Pan.“ 

Er betritt die Gondel der Schilthornbahn, die einen hinaufbringt von Stechelberg nach Mürren, einem Bilderbuchdorf für Touristen, hoch über dem Lauterbrunnental, von dem aus man zum High Ultimate gelangt. Zwanzig Minuten später ist Fabien unterwegs über einen steilen Pfad, der aus dem Ort hinunter führt in Richtung Exit. Als er sich dem Abgrund nähert,  läuft er weiter bis ganz nach vorne, um zu prüfen, dass beim Absprung nichts rutschig ist. Schaut hinunter. Unbewegt. Kommt zurück. Erwidert besorgte Blicke mit einem Lachen: „Ich kann keine Angst haben.“ Außer vor Spinnen. Er greift zum Hörer eines Telefons, das die Bergwacht an jedem Exit installiert hat, um Kollisionen mit Paraglidern und Tandemspringern zu verhindern, die auch im Tal unterwegs sind. „High Ultimate is calling. One minute.“ Er zieht seinen Helm auf mit der Kamera, die den Sprung filmt. 

Zwei Meter vom Abgrund entfernt stellt er sich in Position. Man müsse Anlauf nehmen vom High Ultimate (er spricht es „Ei Ültimät“), weil schon 150 Meter unterhalb des Exits ein gewaltiger Felsvorsprung aus der glatten Wand ragt, den man nicht treffen sollte. Fabien dreht sich kurz nochmal um. Lacht. „Hope to see you again.“ Dann führt er den ausgestreckten Zeigefinger salutierend zur Stirn. Dreht sich nach vorne. Macht drei schnelle Schritte und springt in die Tiefe. Kopf voraus. Arme ausgebreitet. In steilem Winkel. Knapp am Felsen entlang. Beginnt, zu fliegen. Die Augen weit aufgerissen. Die Sinne scharf wie Rasierklingen. Hochkomprimiertes Leben. Nach endlosen Sekunden zieht er den Schirm. 150 Meter vor dem Boden. Zu Beginn habe er noch die Sekunden gezählt, bis er den Schirm öffnet. Habe aber immer viel zu schnell gezählt und viel zu früh gezogen. Heute mache er es nach Gefühl. Viel Später. Er landet im Gras. Ein guter Sprung. Er hat überlebt. Unweit der Landestelle liegt versteckt hinter Bäumen eine kleine Gedenktafel mit den Namen verstorbener Basejumper darauf und einigen Utensilien, eine Sonnenbrille mit nur noch einem Glas, eine Dose Red Bull. Im Tal einzig sichtbarer Hinweis auf die Todesfälle der letzten Jahre. Kurz nach Fabien steht oben schon der nächste am High Ultimate bereit. 

Jetzt, im Juli, wenn Hochsaison ist für die Springer im Lauterbrunnental, machen unten auf den Wiesen die Bauern Heu. Und von oben stürzen die Basejumper vom Himmel. Begleitet von einem Zischen, das durch die Luftströmung entsteht. Jeder im Tal kennt diesen Ton. Trotzdem schaut mancher Bauer, auch mehr als zehn Jahre nach Beginn des großen Booms der Basejumper, noch irritiert nach oben, wenn wieder einer kommt. Mäht die Wiese, um Futter für das Vieh im Stall zu machen und fragt sich, was die Menschen dazu treibt, freiwillig von Felsen zu springen. Und welchen Zweck das erfüllen soll. Dennoch hat man sich damit arrangiert, dass jeden Tag bis zu 200 Springer in ihren Wiesen landen und es im letzten Jahr fast 20’000 Flüge gab. Von den 25 Franken, die jeder für eine Jahreskarte für das Springen an die Gemeinde zahlen muss, fließt ein Teil auch an die Bauern. Nur an die Toten können und wollen sie sich nicht gewöhnen. 

Auch Adolf Vonnauen nicht. Dessen Hof fast direkt unterhalb des Exits High Nose liegt. 63 Jahre alt ist Vonnauen, schon immer lebt er hier im Lauterbrunnental, wo er einst den Hof seiner Eltern übernahm. Der kein Problem hat mit den Springern. „Das sind sehr umgängliche Leute.“ Zwar sei es zu Beginn nicht ganz einfach gewesen. „Sie sind halt gelandet und haben auf Verständnis gehofft.“ Aber das hätten sie zumindest von ihm auch bekommen. Nur die vielen Toten im Laufe der Jahre. Damit konnte er sich nie abfinden. „Da kann ich auch keine Gefühle entwickeln.“ Denn gerade im Umgang mit dem Tod würde es bei vielen kippen von der Leidenschaft zum Exzess. Als vor drei Jahren jemand erst an den Felsen knallte, das Bewusstsein verlor und dann auf Vonnauens Scheune zerschellte, als sie gerade zu Mittag aßen, da seien sie nachmittags schon wieder geflogen. Noch schlimmer allerdings sei der Fall gewesen, zwei Jahre her, als eine Frau auf seine Wiese knallte, weil sie den Schirm nicht mehr rechtzeitig öffnen konnte. Und später im Spital gestorben sei. Schwanger im sechsten Monat. 

Thomas, „nenn mich Tom“, Durrer, 32 Jahre alt, blonde Locken, Dreitagebart, Leiter des örtlichen Tourismusbüros, sagt, dass so etwas natürlich nicht die beste Werbung sei für Lauterbrunnen. Andererseits aber habe der Ort durch die Base Jumper mittlerweile weltweite Bekanntheit erlangt. Stehe fast schon in einer Reihe mit den berühmten Nachbarorten Wengen und Grindelwald. Ganz ohne eigenes Zutun. Denn touristisch bewerben möchte man das Base Jumping nicht. Weil man den Hype nicht noch weiter anheizen wolle. Der die Gefahr berge, dass viele Springer zu früh nach Lauterbrunnen kommen. Bevor sie überhaupt genügend Sprünge anderswo gemacht hätten. „Wir möchten hier eigentlich nur erfahrene Springer haben.“ Schließlich sei das hier das wohl anspruchsvollste Revier der Welt für Base Jumper. Das entdeckt wurde, als Durrer noch zur Schule ging, Anfang der Neunziger, „und es ungaublich aufregend für mich und meine Klassenkameraden, wenn wir mal jemand von denen gesehen haben.“ Damals stand das Base Jumping selbst noch am Anfang stand. Als erst wenige Jahre zuvor Carl Boenish, als eine Art Gründervater der Szene, begann, erstmals mit Fallschirmen statt aus dem Flugzeug von festen Objekten abzuspringen. Von Brücken und Gebäuden zunächst. Später dann auch von Felsen. Wie jenen im Lauterbrunnental, dass die Base Jumper erst nach Boenishs letztem und tödlichem Sprung per Zufall entdeckten. Und sofort elektrisiert waren. Schnell kamen mehr. Der große Boom setzte dann vor etwa zehn Jahren ein. Und wurde nochmals befeuert vom Aufkommen der Helmkameras. Mit denen man das nur Sekunden dauernde Glück fortan konservieren konnte. Und auf Youtube teilen. So dass heutzutage die Base Jumper nicht mehr Ausnahme sind, sondern Regel in Lauterbrunnen. Was Durrer bereichernd findet für den Ort. Meistens. Außer an den Tagen, an denen klar wird, dass aus all dem Spaß immer wieder tödlicher Ernst wird. Wie vor allem an jenem Wochenende im April vergangenen Jahres. Als gleich vier Basejumper starben. 

Natürlich seien die tödlichen Unfälle schlimm, sagt Bruno Durrer in seine Praxis, Vater von Tom Durrer, 62 Jahre alt, Schnauz in freundlichem Gesicht,  Lauterbrunnens Arzt und leitender Bergretter in Personalunion. Leichenbergungen gehörten bei letzterem aber leider nun mal zu seinem Job. Und noch immer gebe es in der Region jedes Jahr mehr tödlich verunglückte Bergsteiger als Basejumper. „Außerdem ist es mir lieber, wenn sich diese Leute hier draußen den Kick holen, den sie offensichtlich brauchen statt durch irgendwelche Drogen.“ Zumal er sie in den Jahren als sehr selbst bestimmte Menschen kennen gelernt habe. Die meist alles dafür geben. Nicht viel Geld haben. Aber Freiheit. Auch die Freiheit, den Tod in Kauf zu nehmen, wenn etwas schief geht. Und so lange sie niemanden sonst damit gefährdeten, könne er das nicht verurteilen. Sich nur vielleicht wundern in manchen Fällen. Als sie jenen Springer beispielsweise am einen Tag aus einem Baum am Felsen retteten. Spektakulär. Mit einem 300 Meter langen Seil aus dem Hubschrauber. Am nächsten Morgen sprang er vom gegenüber liegenden Felsen und starb. 

Auf einem Sofa im „Basepoint“ sitzt an diesem frühen Nachmittag Cherie, 32 Jahre alt, herzförmige Fliegerbrille im dicken, blonden Haar, perlweiße Zähne, 1,68 Meter groß, zierlich, bunte Leggings und schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift „So Many Exit Points.“ Cherie stammt aus Neuseeland, spricht den dortigen Akzent, eine Mischung aus Amerikanisch und Britisch. Eine Frau, die noch ein Mädchen ist und mit dunkler Stimme sehr oft ein lautes, langgestrecktes „Wow“ sagt oder „That’s sooo great.“ 

Seit zehn Jahren lebt sie ihren eigenen Rhythmus. Bedient für ein paar Monate auf einem Kreuzfahrtschiff, zwölf Stunden am Tag, um dann mit dem Geld für ein paar Monate durch Europa zu reisen und zu springen: Italien, Kroatien, Griechenland, Norwegen, wo die anderen wichtigen Zentren der Basejumper liegen. Wo es, genauso wie in der Schweiz, möglich ist, Basejumping ohne hohe Auflagen zu betreiben. Oder wo es nicht gar gänzlich verboten ist wie in den USA. Die drei Wochen in Lauterbrunnen sind für Cherie letzte Station und Höhepunkt jeder Reise. 

Sie isst Salat. Vor Sprüngen immer etwas Leichtes. Sie legt die Gabel zur Seite. Sagt, sie hat keine Kinder. Und will auch nie welche haben. Aber die ersten Sprünge. Die seien derart schön gewesen. So stelle sie sich vielleicht das Gefühl nach einer Geburt vor. „The most beautiful and powerful thing on Earth.“ Sie macht eine kurze Pause. „That’s sooo great.“ 

Natürlich, eins wisse sie auch. Das Basejumping sei ein extrem egoistischer Sport. Man denke allein an sich und sein Glücksgefühl. Eltern, Geschwister, Partner, seien einem in diesen Momenten ziemlich egal. Ihren Eltern in Neuseeland habe sie es deshalb lange verschwiegen. Die seien sowieso sehr „old-school“, verheiratet seit 40 Jahren, immer am selben Ort gewohnt. „So etwas hätten die niemals verstanden.“ Nur ihren Bruder weihte sie ein. Und eine Beziehung mit jemandem, der nicht selbst springt, seien eigentlich nicht vorstellbar. „Der hätte viel zu viel Angst.“ Wie lange man ein solches Leben führen will. „Noch lange.“ Zwar würden viele ihrer früheren Freunde nun heiraten und Kinder kriegen. Aber die Gemeinschaft der Basejumper, von denen man schätzt, dass es etwa 3000 bis 4000 sind weltweit, sei so verschworen. Dass fühle sich an wie eine Familie. Und das Reisen mache ihr nichts aus. „Die Welt ist so groß und das Leben so kurz.“ Solle man da sein Leben in einem Büro verbringen? Immer am selben Ort? Sie wolle das nicht werten. Aber ihr Leben sei es, zu reisen und zu springen. Vier, fünf, manchmal sogar sechs Mal am Tag. Und abends zusammen sein mit den anderen im Horner Pub, dem abendlichen Treffpunkt der Basejumper, am Ortsausgang von Lauterbrunnen, essen, Bier trinken, viele Bier. Und am nächsten Tag wieder von vorne. „Sooo great.“ In Neuseeland war sie in den letzten zehn Jahren nur zu den Beerdigungen ihrer Großeltern. 

Beim Fliegen hat sie ein Ritual. Sie spricht während des Fluges. Aufgezeichnet von ihrer Helmkamera. Einem Modell, das auch stärksten Belastungen standhält. Einem vermutlich tödlichen Aufprall mit hoher Geschwindigkeit beispielsweise. Sie spricht immer dieselben Worte: „I couldn’t be happier than in this moment. I love you,“ – „ Ich könnte nicht glücklicher sein als in diesem Moment. Ich liebe Euch.“ Tröstende Worte für die Hinterbliebenen. Drei Sekunden lang. Da sei alles drin und es sei kurz genug, selbst wenn sie kerzengerade auf den Boden krachen würde. Nun beginnen ihre Finger auf den Tisch zu klopfen. Sie möchte los. Fabien kommt an ihren Tisch. Sie küsst ihn auf die Wange. Er wünscht ihr „a good one.“ 

Demnächst wird er 42. Irgendwann wird es vorbei sein mit dem Springen. Sagt er. Spätestens in zwei Jahren. Hofft er. Bis dahin nämlich möchte er Vater werden. „If I become father, I quit. I promise!“ Er lacht. „Hope not to die in the meantime.“ – „Ich hoffe, dass ich nicht sterbe bis dahin.“