Gesellschaft


Gotthard

Christophe ist müde. Seit Tagen telefoniert der Zimmernachbar drei Stunden jede Nacht. Und die Wände sind dünn im Baustellendorf, wo sich Container an Container reiht, Zimmer an Zimmer, Zellen eher. Vielleicht geht er doch mal rüber beim nächsten Mal, denkt er, weil er morgen wieder aufstehen muss um kurz nach fünf, Frühschicht. Andererseits: Wer im Tunnel arbeitet, muss tolerant sein. Da unten ist jeder auf jeden angewiesen und schlechte Stimmung oben deswegen nicht gut. Sagt Christophe, der aus dem Wallis stammt, drei Autostunden von hier, 49, ein ruhiger Mensch, klein, gedrungen, mit breitem Kreuz und einem gütigen Gesicht, das er ein Wurstgesicht nennt.

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Alexander Gerst

Sein Traum rückt der Wirklichkeit immer näher. Gerade erst wurde es ihm wieder mal bewusst. Über all dem Training vergisst er das öfters. Dass er bald nach den Sternen greift. Ins All fliegt. Als elfter Deutscher überhaupt erst da oben. Als zweiter gar erst mit einem Langzeitaufenthalt. Sechs Monate lang als Bordingenieur auf der Raumfähre ISS. Teil der Mission 40, genannt „blue dot“, blauer Punkt. Was die Erde aus großer Entfernung ist.

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Jean Ziegler

Der Verräter wohnt idyllisch. Ein winziges schweizerisches Weindorf, zwanzig Autominuten von Genf entfernt und eine halbe von Frankreich. Drei Straßen, dreihundert Bewohner und einer davon er: Jean Ziegler. Stimme der Armen, ihre Sirene, Schreck der Mächtigen, Freund der Medien. Ziegler, den man liebt in der Schweiz und auf der Welt. Oder hasst. Vaterlandsverräter, Dreckschleuder, Lügner. Eine Schande. So nennen ihn seine Gegner - konservative Politiker, Banker oder die Vorstände jener Weltkonzerne, die er unablässig der rücksichtslosen Profitgier bezichtigt.

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Feind im Kopf

Wahrscheinlich war das der Anfang von dem, was sein Leben trennte in ein davor und danach. Drei Jahre ist das her. Er war beim Krafttraining in seiner Kaserne im Norddeutschen. Beim Bankdrücken schaut ein Kamerad hinüber zu ihm. Auf seine Arme. „Was ist das?“ Der Kamerad lacht. „Beulenpest oder was?“ Ein Spaß unter Kollegen. Doch der Zweifel an sich und seinem Äußeren war für Stephan das erste Mal in der Welt. Noch nicht sehr stark. Aber er war jetzt da. 

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Mobilfunk

Der Weg ins kleine Glück von Ulrich Weiner ist nicht leicht. Es liegt in einem tief eingeschnittenen, schroffen Seitental weit hinter Furtwangen, das man nur erreicht mit intimen Ortskenntnissen und über abenteuerlich gewundene, schmale Straßen. Fernab des nächsten Hauses, noch ferner der nächsten Siedlung, fast ohne Gefahr, dass sich dorthin Menschen verirren. Hier steht des morastigen Untergrundes wegen auf Holzbrettern der Wohnwagen von Ulrich Weiner. Ein Aufkleber neben der Tür zeigt ein durchgestrichenes Handy. Und den kurzen Text: „Krebs, Alzheimer, MS, Impotenz? Telefonieren mit dem Handy? Ich bin doch nicht blöd.“ 

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Olli Hoff

Die Rolle seines Lebens liegt nur siebzehn Kilometer entfernt von Oliver Hoff. Auf dem Melaten-Friedhof, wo Köln seine Prominenten begräbt. Auch Willy Millowitsch, Ehrenbürger von Köln und deutsche Bühnenlegende schon zu Lebzeiten. Hoff, 64 Jahre alt, ist Millowitschs einziger Imitator in Deutschland. Eine Art künstlerischer Nachlassverwalter. Obwohl man ihm damit nicht ganz gerecht wird. Denn er ist mehr als das, weil er ihn auf der Bühne weiterlebt, den Willy, das Original.

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Ein kurzes Leben

Drei Monate zu früh kam er in die Welt. Für das Leben war er noch nicht gerüstet. Multiorgandefekt. Herz, Milz, Lunge – nichts funktionierte, wie es sollte. Man operierte ihn drei Mal in seinen ersten vier Wochen. An deren Ende hatte Philippe den Kampf gewonnen. Er überlebte. Sein Lungengewebe aber war zerstört durch einen Infekt. Atmen würde er von nun an nie mehr können ohne Maschinen. Ein Leben am künstlichen Schlauch, am seidenen Faden. Den Eltern sagten die Ärzte: „Er wird höchstens drei Jahre alt. Mehr ist medizinisch nicht möglich.“ Philippe wurde neunzehn Jahre alt. Neunzehn und ein halbes.

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Rinderflüsterer

Schon nachts vor jenen Tagen schläft Maier schlecht. Wacht er frühmorgens auf, möchte er liegen bleiben. Er hasst diese Tage, an denen er töten muss. Vielleicht fände er einen Grund, es noch mal auf morgen zu verschieben. Aber er weiß es besser. Hat es selbst so gewollt. Sogar gekämpft dafür. Also muss er nun raus. Es ist sechs Uhr, im Osten, hinter der Burg Hohenzollern, in Stein gehauenem Trotz, auf den hinüber Maier von seinem Hof blickt, geht die Sonne auf und bringt den Tag nach Ostdorf. Besser das Wetter wäre trübe. Seinem Inneren entsprechend.

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