Andermatt

Der kleine Mann mit den großen Plänen stand irgendwann vor ihnen. Er kam aus dem warmen Ägypten in das kalte Dorf am Fuße des Gotthardpasses, das seit einiger Zeit nicht nur des Wetters wegen fröstelte, sondern auch beim Gedanken an seine Zukunft. Die Gemeindehalle war voll besetzt, tausend Menschen waren da, beinahe der ganze Ort. Sie warteten, misstrauisch, was dieser Mann, steinreich, wie man hörte, ihnen zu sagen hatte.

„Ich möchte etwas schaffen mit Euch,“ rief der Fremde an jenem 18. Dezember 2005 in die Mehrzweckhalle von Andermatt, einem 1'500 Seelen-Dorf im Ursern-Tal, weit oben, wo sich der Schweizer Kanton Uri vom Tessin scheidet. Braun gebrannt stand er hinter dem Mikrofon, kaum 1,70 Meter, das grau melierte Haar gelockt und auf den Lippen ein stetes Lächeln, das Lächeln eines umworbenen Kindes, dem vieles zufiel in seinem Leben.  Mit sanfter Stimme und akzentfreiem Deutsch sprach er weiter: „Ihr Urner dürft Euch nicht immer unterschätzen.“ Die Bürger machten sich länger auf den harten Stühlen.

Der Mann am Pult drehte seine Handflächen nach oben, lobte die einzigartige Gegend: Berge ringsum, wunderbare Skipisten. Dazu die exponierte Lage, mitten in der Schweiz. In der Mitte Europas gar. Zürich nur eineinhalb Autostunden entfernt, genauso Mailand. Ein touristisches Dorado ließe sich hieraus machen, nicht länger verschlafen. Etwas, wovon alle profitieren könnten. „Ihr“, wie er anfangs immer sagte. Am Ende sagte er dann: „Wir“.

Nachdem er geschlossen hatte, mit einem dankenden Kopfnicken und kurz zuvor dem Bekenntnis, dass er ja auch Christ sei wie sie, waren die Bürger elektrisiert. Waren die Pläne des Mannes da vorne, Samih Sawiris, 51 Jahre alt, Spross der reichsten Familie Ägyptens, Vater von vier Kindern und Chef des größten Tourismuskonzerns des Landes am Nil, Orascom Hotels & Development, waren seine Pläne und Visionen von einem neuen Andermatt auch zu ihren geworden. Die Pläne für ein Ferienressort, das auf ehemaligem Militärgelände errichtet werden soll. Größer als das ganze jetzige Dorf, 145 Hektar Gesamtfläche.

Sieben Hotels sollen entstehen, ein 18-Loch-Golfplatz, zwei Schwimmbäder, vierhundert Ferienwohnungen und dazu vierzig Villen - alles auf Fünfsterne-Niveau. Angelegt wie eine ovale Spirale. Im äußeren Ring Wohnungen, dann die Villen, im Inneren die großen Luxushotels.

Alles in allem wird es das größte Bauprojekt dieser Art in den Alpen sein, in das fast eine Milliarde Euro fließen und nach dessen Fertigstellung über tausend Arbeitsplätze entstehen sollen.

Es ist seit Sawiris’ Erscheinen ein bisschen wie Dürrenmatt in Andermatt. Es kommt von außerhalb ein Mensch mit viel Geld in ein Dorf, das seine beste Zeit schon hatte. Nur ist es nicht der Besuch einer alten Frau, die nach Rache sinnt, sondern eines vitalen Mannes, der nach einem guten Gewinn strebt.  Wobei gut für ihn bedeutet, dass sich sein Gewinn nicht nur in Zählbarem niederschlägt. Sagt er. Ganz nach seinem Geschäftsgrundsatz, der ihm, wie er bei jeder Gelegenheit betont, als Maßstab für alle seiner Projekte dient: „Man sollte nirgendwo verbrannte Erde hinterlassen. Und schauen, dass der andere auch gut verdient.“ Der andere - also Andermatt.

Ein Ort, der ein spezielles Problem hat: rund um ihn wird immer weniger geschossen. Weil seit der 1995 begonnenen so genannten „Armeereform XXI“ das Schweizer Militär sich drastisch verkleinert. Andermatt, das seit den 20er-Jahren seiner geographischen Lage wegen Teil der legendären Gotthardfestung ist und somit einer der großen Militärstützpunkte der Schweiz, verlor in den letzten Jahren seinen wichtigsten  Wirtschaftsfaktor. Es waren mal achthundert Soldaten hier. Jetzt ist es nur noch die Gebirgsjägertruppe, kaum hundert Mann. Die Kaserne gegenüber dem Bahnhof verwaist zusehends. Jahrzehntelang lebte das Dorf fast symbiotisch mit seinen Soldaten, die dort einkauften, zum Arzt gingen, tranken und aßen. „Ohne Mampf kein Kampf,“ sagte man in Andermatt. Nun erkaltete das Dorfleben. Es schlossen die Apotheke, die Metzgerei, Kneipen. Und dann auch zwei der drei Lebensmittelgeschäfte. Von den 1’700 Einwohnern im Jahre 1995 blieben Andermatt elf Jahre später nur noch 1’150. Vor allem die Jungen gingen fort. Es gab hier keine Arbeit mehr für sie und also zogen sie dort hin, wo es Arbeit gibt, ins Flachland, in die größeren Städte, Luzern, Zürich, Basel.

Vielleicht ist Sawiris die große Chance auf eine neue Zeit in Andermatt. Dachte und denkt man hier. Auf die Zeit nach den Soldaten. Der Mann, der Andermatt zurück in die Zukunft bringen könnte. Schließlich war der Ort einmal mondänes Ziel für Touristen. Damals, Anfang des 20. Jahrhunderts, bevor das Militär kam und mit seinen Schießereien die Gäste vertrieb. Die reichen Engländer kamen hier herauf, Pioniere des Alpentourismus, und logierten in den Luxushotels der Belle Epoche. Heute erinnert an diese Zeit nur noch das „Bellevue“ am Ortsausgang mit seiner abgeblätterten Fassade und dem löchrigen Dach. Nun aber soll der Luxus zurückkehren. Jetzt, da es in Andermatt nur noch Zwei- und Drei-Sterne-Hotels gibt wie das „Drei-Könige“. Dort, wo Sawiris immer wohnt, wenn er in Andermatt weilt. Es ist das beste Haus am Ort. Mit dunklen Holzvertäfelungen und schweren Bordüren über den Fenstern im Frühstücksraum. Gemütlich, aber behäbig. Das alte Andermatt.

Sawiris ist auf dem Weg dorthin an einem grauen Vormittag. Er sitzt in einer schwarzen Limousine, die von Zürich aus über die Autobahn rollt. Neben dem Chauffeur, der genauso wie der Wagen nur gemietet ist. Heute Morgen kam Sawiris mit einem Linienflug von Kairo. Nur wenn er kurzfristig anreisen muss, sagt er, nehme er den Privatjet. Unterwegs fährt sein Chauffeur einen kurzen Umweg über Luzern, wo Sawiris an einer Podiumsdiskussion teilnimmt zum Thema „Business Excellence“, weil er in Schweizer Wirtschaftskreisen mittlerweile ein Star ist. Er packt an und arbeitet hart wie ein Eidgenosse, besitzt dabei aber noch eine Leichtigkeit und Spontaneität, die den Schweizern seit je her ein wenig fehlt. Sawiris hat auf einem Ledersessel Platz genommen, den linken Arm nach hinten über die Lehne gelegt. Die Moderatorin fragt ihn, wie man es schafft, ein solch gigantisches Projekt zu stemmen. Und er antwortet, dass man sich vor allem nicht zu viele Sorgen machen dürfe. Und dass die Arbeit Spaß machen sollte. Er zum Beispiel mache immer nur Projekte, die ihm Spaß machen würden. Nur so käme auch der Erfolg, sagt er. Und dann sagt er noch, leise und ruhig, wie er meistens spricht und mit seinem Lächeln: „Mir ist bisher immer alles gelungen.“ Vor allem aber das Prunkstück innerhalb des Orascom-Konzerns soll der Beweis für sein unerschütterliches Selbstbewusstsein sein: El Gouna. Die künstlich geschaffene Ferienstadt am Ufer des roten Meeres ist so groß wie das Zentrum von London. Es gibt dort gut ausgebaute Einkaufsstraßen, ein öffentliches Verkehrsnetz, zwei kleine Yachthäfen, mehrere Schulen, eine Kirche, eine Moschee. Und natürlich all die Hotels und Villen, wie sie in Andermatt dereinst stehen sollen.

Damit ihm das auch dort gelingt, kommt Sawiris seit seiner Rede jeden Monat für ein, zwei Tage in die Schweiz. Weil es hier noch viel zu tun gibt für ihn. Letzte Grundstückskäufe, Diskussionen darüber, wer für die Beseitigung der Altlasten des Militärs aufkommt, bürokratischer Kram wie Baugenehmigungen.

Sein Auftritt in Luzern ist beendet und die Limousine gleitet nun am Vierwaldstätter See entlang. „Nimmt er das wirklich alles so locker?“ Sawiris dreht sich nach hinten. Das Handy klingelt. Er hebt kurz die Hand, sagt „one moment“ und spricht in sein Headset. Das Gespräch beendet er schnell, mit den Worten: „Don’t follow! Lead!“ - „Sag ihm, wo es langgeht!“ Er lacht: „Ein Mitarbeiter von mir hat Probleme mit einem potenziellen Lieferanten.“ Er erinnert sich an die Frage und sagt: „Ja, ich lasse mich nicht aus der Ruhe bringen.“ Und nach einer kurzen Pause: „Wissen Sie, das ist mein erstes Engagement in einem demokratischen Land.“ Da brauche man eben ein bisschen Geduld. „Dort, wo ich herkomme, benötigt die Baugenehmigung die Dauer der Unterschrift.“

Immerhin aber soll der Spatenstich erfolgen, sobald im nächsten Jahr auf dem Baugrund der letzte Schnee verschwunden ist. Andermatts Weg in die Zukunft würde dann zementiert werden. Ein Weg, der sich schon im Februar 2005 abzeichnete, zehn Monate vor seiner Rede an die Bürger. „Als ich durch Zufall nach Andermatt kam,“ wie Sawiris oft sagt. Der Schweizer Botschafter in Ägypten, mit Sawiris befreundet, weil fast alle wichtigeren Leute in Ägypten befreundet sind mit den „Rockefellers vom Nil“, hatte ihn eingeladen und ihm das Dorf gezeigt, das doch ideal wäre für seine Pläne. Sawiris war schnell seiner Meinung.

Und Karl Danioth war schnell Sawiris’ Meinung. Er war damals Talamann, der Bürgermeister für das ganze Urserntal. Ein wichtiger Mann. Danioth, sonnengegerbt von der Arbeit als Landwirt, sitzt in der Stube seiner Wohnung. Von einem Schrank starrt ein ausgestopfter Fuchs. Danioth sagt, dass die einzige Konstante hier in der Region der Wandel sei. Der Wandel: im Urserntal, der letzten Zwischenebene vor dem Aufstieg zum Gotthardpass, rasteten vor Jahrhunderten die Säumer mit ihren Mauleseln, danach kamen die Kutschen nach Andermatt und dann kam 1882 der Eisenbahntunnel, der den Gotthard 400 Meter weiter unten durchbohrte und die Kutschen oben überflüssig machte. Fortan mühten sich nur noch die reichen Engländer herauf, bevor dann die Schweizer Soldaten kamen. Und Sawiris, jetzt. „So eine Chance wie Sawiris muss man doch ergreifen, wenn sie einmal da ist,“ sagt nun Karl Danioth und schlägt mit der Handkante auf den Eichentisch. „Ich hab’ immer davon geträumt, dass bei uns irgendwann noch mal etwas Großes geschieht.“ Danioth ist 66 Jahre alt, sein Leben lang waren die Soldaten im Ort, schossen gleich neben den Weiden seiner Kühe, die seit einiger Zeit die Kühe seines Sohnes sind. Nicht mehr lange aber, denn ein Teil des Bodens, den Sawiris beansprucht, war Weidegrund der Danioths. „Mein Sohn gibt den Betrieb auf,“ sagt Danioth mit leuchtenden Augen. Der Boden sei verkauft, weil Sawiris dem Sohn schon eine Stelle im Ressort versprochen habe. „Wir wissen nur noch nicht, was für eine.“

Dass es ein Erfolg wird, was Sawiris plant, davon ist Danioth überzeugt. Zu gut sei sein Konzept: zunächst soll in einer ersten Bauphase nur der Golfplatz und ein Drittel der Immobilien gebaut werden, die dann verkauft werden. Einerseits an Private und andererseits an Luxushotelketten wie Steigenberger oder Sheraton, mit denen Sawiris in fortgeschrittenen Verhandlungen steht.

Wird dann das Angebot gut angenommen, soll das zweite Drittel folgen und zu schon wesentlich höheren Preisen verkauft werden. Möglichst früh möchte Sawiris prominente Namen anlocken: Schauspieler, Industrielle, Showstars. Damit der ganze Ort einen mondänen Klang bekommt und somit entsprechend zahlungskräftige Klientel anzieht.

Andermatt liegt Sawiris mittlerweile zu Füssen wie dem Gotthard. Manche nennen ihn auch schon den Messias vom Urserntal. Nur einige wenige äußern Bedenken. Fällt ihr Name, heißt es: „Ach, der!“

Auch Peter Indergand hat seit geraumer Zeit keinen guten Leumund im Ort. Er wohnt nur ein paar Meter entfernt von Karl Danioth, ihre Ansichten aber liegen weit auseinander. Indergand, ein schmaler Mann mit weißem Rauschebart, führt hinauf in seine  Dachwohnung. Zu Beginn des Gesprächs sagt er: „Ich bin jetzt 71, ich dürfte mich eigentlich gar nicht mehr aufregen.“ Den Großteil seines Lebens hat er in Andermatt verbracht.  „Und was einem vertraut ist, liegt einem eben am Herzen,“ sagt er. Indergand zweifelt daran, dass ihm das neue Andermatt noch vertraut sein wird. Er zweifelt daran mit leiser Stimme, denn ein lauter Revolutionär möchte er nicht sein. Das passe nicht zu einem, der zwanzig Jahre lang Leiter der örtlichen Kantonalbank war. „Aber seine Meinung muss man doch sagen dürfen.“ Dass mit all dem Schönen und Großen das Familiäre auf der Strecke bleiben wird. Der Charme des nicht ganz Perfekten, weil ja auch das alte Andermatt mitziehen und sich an die neue, reiche Kundschaft anpassen müsse, will es vom großen Kuchen etwas abbekommen. „Und außerdem: die 1500 Arbeitsplätze. Wo entstehen die denn? Und für wen?“ Das meiste wären doch einfache Tätigkeiten, Zimmerservice, Reinigungskräfte. „Die Leute hier danken jetzt schon alle. Die sollen doch aber erstmal denken und abwarten, bis wirklich etwas steht,“ sagt Indergand. Der Sawiris sei natürlich ein  wunderbarer Redner, der also auch gut um den Finger wickeln könne. Aber eben genauso ein harter Geschäftsmann, der Projekte dort baut, wo die Lage sich als viel versprechend erweist. Und nicht aus Liebe zu Land und Leuten. Dann entschuldigt sich Indergand. „Ich höre besser auf jetzt, sonst werde ich wieder zu emotional.“

Samih Sawiris ist derweil auf dem Rückflug nach Kairo. Übermorgen muss er weiter nach Marokko. Er plant und baut derzeit sechs Projekte gleichzeitig, in Marokko, Oman, auf Mauritius und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Jenes in Andermatt ist von allen das kleinste.