Alexander Gerst

Sein Traum rückt der Wirklichkeit immer näher. Gerade erst wurde es ihm wieder mal bewusst. Über all dem Training vergisst er das öfters. Dass er bald nach den Sternen greift. Ins All fliegt. Als elfter Deutscher überhaupt erst da oben. Als zweiter gar erst mit einem Langzeitaufenthalt. Sechs Monate lang als Bordingenieur auf der Raumfähre ISS. Teil der Mission 40, genannt „blue dot“, blauer Punkt. Was die Erde aus großer Entfernung ist.

An diesem grauen Morgen Ende März sitzt Alexander Gerst, Jahrgang 1976, geboren im württembergischen Künzelsau, kahl geschorener Kopf, wacher Blick in schmalem Gesicht, im Konferenzraum „Juri Gagarin“ des European Astronaute Centre in Köln, gelegen hinter einem Waldstück am Rande von Wahn, eines ziemlich geerdeten Teils der Stadt. Gerst trägt den blauen Anzug der Astronauten der ESA, European Space Agency, in deren Auftrag er am 29. Mai vom Weltraumbahnhof Baikonur tief in der kasachischen Steppe ins All abheben wird.

Vor dem Interview hatte er noch eine Schulklasse zu Gast. Leuchtende Augen, begeisterte Fragen, gemeinsame Fotos und Verteilen seiner Autogrammkarten. Unter Jungs steht Astronaut weltweit noch immer an erster Stelle, wenn es darum geht, was sie einmal werden wollen. Da habe er wieder einmal gemerkt, wie einzigartig doch sei, was er mache und was vor ihm liege.

Denn schließlich ist es im Grunde nahezu unmöglich, jemals Astronaut zu werden. „Das ist eigentlich nichts, worauf man hinarbeiten könnte im Leben,“ sagt Alexander Gerst, sichere, dunkle Stimme. Zu wenige auf der Welt bekämen dazu die Gelegenheit. „Aber es war schon von Kindheit an mein großer Traum,“ er lächelt, „und ist es immer geblieben.“ Als dann Mitte 2008 tatsächlich die ESA per Ausschreibung neue Astronauten für die nächste Mission suchte, habe er sich einfach bewerben müssen. Wissend, dass er es nicht werde. „Aber ich wollte nicht irgendwann realisieren, dass ich es nie probiert habe“, sagt Gerst, gierig nach Unbekanntem schon immer, als Kind in den Wäldern, nach dem Abitur Rucksacktourist für ein Jahr, später für seine Promotionsrecherche lange unterwegs im kalten Nichts der Antarktis.

Am Ende gingen 8413 Bewerbungen bei der ESA ein. Vier davon würden es schaffen. Bewerber genug, um keine zu großen Hoffnungen zu hegen. „Zumal ich ja in meinem Beruf glücklich war“, sagt Gerst. Als mit Preisen bedachter Geophysiker an der Uni Hamburg arbeitete er zu der Zeit an seiner Promotion zur „Eruptionsdynamik des antarktischen Vulkans Mount Erebus.“

Als im Januar 2009 außer ihm nur noch 22 Bewerber übrig waren, „wurde es immer schwieriger, nicht auf den großen Wurf zu hoffen.“ Ein Freund fragte ihn damals, ob er lieber 10 Millionen im Lotto gewinnen wolle und dafür die Chance aufzugeben, die er jetzt habe. „Ich habe sofort nein gesagt.“ Ein großer Traum sei wesentlich wichtiger als Geld. Und im Leben gebe es für dessen Erfüllung meist nur wenige Gelegenheiten.

Im Mai 2009 schafft er den Grundstein dafür. Er ist nun ins Korps der Astronautenanwärter bei der ESA aufgenommen. Der Anruf aus der Zentrale in Paris erreicht ihn abends um neun, über seiner Doktorarbeit sitzend. „Benommenheit beschreibt das Gefühl wohl am ehesten“, sagt Gerst nun und lächelt. Am 22. November 2010 dann wird er nach erfolgreichem Abschluss seiner Grundausbildung in einer feierlichen Zeremonie zum Astronauten ernannt. Kurz danach erfolgt seine Nominierung für die Mission 40.

Und es beginnt ein drei Jahre währendes, von der ESA minutiös geplantes und normiertes Training, das bis drei Tage vor dem Start andauert. Seit dem führt Gerst ein beschleunigtes Leben zum Wohle der perfekten Vorbereitung auf seinen Aufenthalt im All. Pendelt zwischen dem Astronaute Centre in Köln, dem Space Centre in Houston und dem so genannten „Sternenstädtchen“ nordöstlich von Moskau, in dem einst schon Juri Gagarin für seine Mission trainierte.

Lernt, sich zu bewegen in einem Raumanzug, der 160 Kilo schwer ist. In dem jede Bewegung mit der Hand sich anfühlt, als ob man einen Tennisball mit voller Kraft zusammendrückt. Lernt die ganze Zeit hindurch Russisch, neben Englisch zweite Amtssprache im All. Rotiert mit hohem Tempo und verschnürt auf einem Spezialsitz in einer gewaltigen Zentrifuge. Muss dabei einen Knopf im Inneren stets gedrückt halten, um zu zeigen, dass er das Bewusstsein behält bei extremen Beschleunigungen in alle Richtungen. Bei Start und Landung lastet ein Druck von bis zum Neunfachen des eigenen Körpergewichtes auf den Astronauten, der das Atmen für Ungeübte fast unmöglich macht. Übt in einem 13 Meter tiefen Wasserbecken, weil auf der Erde der Aufenthalt im Wasser dem Gefühl der Schwerelosigkeit am nächsten kommt, im Raumanzug 7-Stunden-Schichten zu absolvieren. Wobei Trainingsleiter durch runde Scheiben an der Seite beobachten, ob dabei jeder Handgriff sitzt. Für spätere Außeneinsätze, wenn etwa für Experimente elektronische Geräte an der Raumstation befestigt werden müssen.

Aber auch die Fortbewegung in der Raumfähre selbst erfordert unzählige Stunden der Übung. In einem Nachbau der ISS auf dem Trainingsgelände in Köln hat Gerst sich die Lage jedes Haltegriffs eingeprägt, jeder Schlaufe für die Füße zur Fixierung auf dem Boden, die Funktion jedes Moduls studiert, jeden Verschluss der Luke beim Ausstieg aus der Station. Alles muss sitzen. Nachdenken dürfte man im Falle des Falles nur noch kurz darüber, was zu tun ist, nicht über das, wie man es tut. Natürlich könne man die  absolute Sicherheit dort oben nie haben, aber doch zumindest so gut wie möglich darauf hinarbeiten. Respekt vor der Situation sei durchaus angebracht, Angst sei fehl am Platz. „Angst bedeutet Kontrollverlust,“ sagt Gerst, „und den darf man sich nicht erlauben.“

Trotz allem aber dürfe man die Lockerheit nicht verlieren. Den Spaß an der Sache. Neben einer Eingangsluke des ISS-Nachbaus in Köln haben sie einen Aufkleber angebracht: „Speed Limit: 17500 Miles, 28 000 km/h“.

Mit eben jener Geschwindigkeit, Orbitalgeschwindigkeit, wird es am 29. Mai in Baikonur, 5’000 Kilometer entfernt von Köln, 400 Kilometer nach oben gehen, raus aus der Erde. „Die Orbitalgeschwindigkeit muss man erreichen, sonst fällt man auf der anderen Seite wieder runter.“ Schon nach acht Minuten werden Gerst und seine beiden Kollegen aus Russland und den USA im Weltall sein. Andocken an die ISS werden sie allerdings erst nach sechs Stunden. „Diese Zeit brauchen wir für unser Parkmanöver,“ sagt Gerst und lacht. Zwei Objekte, Raumkapsel und Raumstation, müsse man bei Tempo 28'000 km/h exakt synchronisieren. Deswegen ziele man zu Beginn immer ein bisschen daneben und nähere sich nur langsam per Kursänderung derselben Umlaufbahn an.  „Am Ende ist man dann etwa vier bis fünf Mal um die Erde rum, bevor man richtig eingeparkt hat und korrekt an die Raumstation andockt.“

Wie es oben sein wird. Ein wenig komfortabler als früher auf jeden Fall. Seit einiger Zeit beispielsweise gibt es eigene Schlafkojen. Man klebt mit seinem Schlafsack zwar noch an der Decke, aber nicht mehr irgendwo in der Raumstation. Auch das Essen ist besser geworden in den Jahren. Europäisch, indisch, mexikanisch. Verschweißt und weniger geschmacksneutral als früher. Bei Neuankömmlingen auch mal mitgebrachtes Obst für kurze Zeit. Wenngleich Hunger- und auch Durstgefühl in der Schwerlosigkeit sehr schwach ausgeprägt sind. So das noch mehr Zeit bleibt für Arbeit. Viel Arbeit. 12 Stunden, 13 Stunden jeden Tag. 162 Experimente sind vorgesehen für Mission 40. Neue Arten der Legierung für den Auto- und Flugzeugbau sollen getestet werden. Osteoporose, Knochenschwund, will man besser verstehen und also heilen lernen. Weil auch Gerst und seine Kollegen selbst bei einem solch langen Aufenthalt im All unter Knochenschwund leiden werden. Natürlich, sagt Gerst, selbst Wissenschaftler aus Leidenschaft, sei die Wissenschaft mit der wichtigste Grund für seinen Flug ins All. GPS, Satellitenfernseher, Wettervorhersage. Würde es ja alles nicht geben ohne Weltraumforschung.

Aber das allein ist es nicht. „Ich denke,“ sagt Gerst und dreht seine Handflächen nach oben, „dass es einen Menschen generell verändern muss, wenn er mal dort oben war. Diese unglaubliche Perspektive.“ Er schüttelt den Kopf und lächelt ungläubig, als ob es ihm gerade erst wieder bewusst wird. „Runterschauen auf diese große blaue Kugel. Wahnsinn. Kontinente mit eigenen Augen sehen.“ Das müsse unglaublich friedlich und feierlich wirken. Den Moment des ersten Blickes auf die Erde. Den werde er nie mehr vergessen. Da ist er sich sicher. „Diesen zerbrechlichen Planeten nicht zu ruinieren durch Kriege und Umweltverschmutzung,“ sagt Gerst, ein wenig beseelt schon von der Vorstellung, oben zu sein,“ das soll auch eine Botschaft meiner Mission sein.“

Noch ein paar Wochen. Dann ist es soweit. Dann sind die Jahre des harten Trainings vorüber. Dann ist er dort, worauf er so lange hingearbeitet hat. Er lacht: „Geduld ist bitter, aber ihre Frucht ist süß.“

Der Zeitpunkt der Abreise ist wie alles in der Raumfahrt akribisch geplant. Für die ISS-Mission 40 wird es der 29.5. 2014 um 19.56 Uhr Ortszeit sein. In den Minuten zuvor wird er sich von seinen Eltern und der Lebensgefährtin der Quarantäne wegen durch eine Glasscheibe getrennt verabschieden. Gestartet wird vom Kosmodrom Baikonur, dem größten Raketenstartplatz der Welt, 6700 Quadratkilometer Fläche. Von Startrampe LC-1 werden Gerst und seine Crew aufbrechen. Im Raumschiff Typ Sojus ZK-STMA-Z, das, sobald man das All und die Schwerelosigkeit erreicht hat, sich von seiner Trägerrakete Typ Sojus FG, 26 Millionen PS stark, lösen wird, um das Andockmanöver zu starten.

Am 17.11. 2014 wird man ein paar Kilometer weiter auf dem Landeareal von Baikonur wieder auf der Erde zurück sein. Sollte es zum Notfall kommen in der Raumstation, haben sie sieben Minuten, in die Notfallkapseln zu gelangen, mit denen es dann zur Erde geht binnen einer Stunde. Vorgemerkte Notlandeorte liegen quer verteilt über der Erde, im Pazifik beispielsweise oder vor der französischen Atlantikküste.

Was wird er fühlen, Alexander Gerst, nach dem 17.11.2014? Die große Leere nach den Jahren der Anspannung, des Adrenalins, des stets Außergewöhnlichen? Nach den Blicken auf die Erde?

„Ich denke nicht“, sagt Gerst. Aber ein Loch, das werde es wohl erst mal geben.

„Ich habe jetzt vier Jahre lang in einem Tempo gelebt und trainiert, dass quasi an meiner Maximalgrenze liegt. Ich glaube, dass ist hinterher die große Herausforderung, dass alles wieder herunterzuschrauben auf ein normales Niveau.“ Astronaut der ESA auf jeden Fall bleibt er danach ein Leben lang, vergütet mit 6300 Euro netto im Monat vor und 8500 Euro nach der Mission.

Und einer, dem die ganz große Vision vorschwebt. Ein Wunsch, den fast jeder Astronaut hege. Der Flug zum Mars. „Das wäre die ultimative Reise.“ 2040, sagen Experten, sei der Flug zum 55 Millionen Kilometer entfernten Planeten technisch machbar. Gerst wäre dann 64 Jahre alt. Solch gewaltiger kosmischer Strahlung würden sich wohl ohnehin nur ältere Astronauten aussetzen.

Er wäre dann also im besten Alter dafür. Für den letzten großen Traum.